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Kinder und Nationalsozialismus: Wann fängt man mit Hitler an?

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„Gar nicht“, würde Alexander Gauland sehr wahrscheinlich antworten, wenn jemand auf die Idee käme, ihm diese Frage zu stellen. Schließlich sind diese zwölf Jahre Nationalsozialismus seiner Meinung nach ja nur „ein Vogelschiss“ in der großen deutschen Geschichte.

Diese Aussage ist ein alter Hut. Ich wollte nur noch einmal daran erinnern, dass ein deutscher Politiker, der immer noch im Bundestag ist, so etwas wirklich gesagt hat. Das Zitat ist mir beim Schreiben dieses Textes sofort wieder eingefallen. Wie alt sollten Kinder sein, wenn man mit ihnen über den Nationalsozialismus spricht?

Der zerstörte Turm der Gedächtniskirche ist eine der vielen heute noch sichtbaren Spuren des Zweiten Weltkriegs in Berlin.
Der zerstörte Turm der Gedächtniskirche ist eine der vielen heute noch sichtbaren Spuren des Zweiten Weltkriegs in Berlin.

Es ist knapp drei Jahre her. Ich sitze mit unserem Sohn Theo, damals sechs Jahre alt, in der Berliner S-Bahn. Wir schauen aus dem Fenster und zählen die Kräne. In Berlin wird viel gebaut. Wir fahren von Mitte nach Westen. Am Hauptbahnhof vorbei, Bellevue, Tiergarten, Zoologischer Garten. Am Ku´damm ruft Theo plötzlich: „Papa, guck mal die Kirche da. Warum ist die kaputt?“ Ich überlege kurz: „Weißt du, da ist eine Bombe reingefallen.“ Mein Sohn macht große Augen. „Warum? Wer hat die Bombe denn da reingeschmissen?“ „Weil Krieg war. Das waren englische Flieger.“ „Warum haben die das gemacht? Waren die böse?“ „Naja, weißt du, eigentlich war Deutschland damals böse. Es wurde von einem Mann regiert, der die ganze Welt beherrschen wollte. Alle sollten so sein, wie er das für richtig hielt. Darum hat er Krieg und großes Unheil über ganz viele Menschen gebracht.“ Theo überlegt. „Wie hieß der Mann?“ „Adolf Hitler.“ „Sind auch Menschen gestorben?“ „Ganz viele. Millionen.“ „Millionen?“ Theo denkt nach. „Und darum haben die die Bombe in die Kirche geworfen? Damit er damit aufhört?“ „Ja, so ungefähr. Toll war das nicht. Dabei sind auch Menschen gestorben, die gar nichts mit dem Krieg zu tun hatten.“ Ich habe Theos volle Aufmerksamkeit. „Weißt du, die Kirche war kaputt. Dann hat man sie repariert, aber das Dach hat man so kaputt gelassen. Es soll die Menschen daran erinnern, dass Krieg etwas Fürchterliches und absolut Sinnloses ist. Die Kirche steht dafür, dass wir nie wieder Krieg führen.“ Theo schaut aus dem Fenster. „Papa, der böse Mann… Adolf Hitler… lebt der noch?“ „Nein, der ist schon lange tot.“ Wie ist er gestorben?“ Ich überlege kurz: „Er hat sich umgebracht.“

Ähnliche Gespräche hatten wir auf Rügen in Prora, in Nürnberg und natürlich an anderen Orten in Berlin. Die Fragen kommen. Warum gab es die Berliner Mauer? Wer hat Prora gebaut und wer das Zeppelinfeld? Warum steht mitten im Treptower Park in Berlin das Sowjetische Ehrenmal? Warum hat Berlin eigentlich zwei Zoos? Es ist nicht möglich, mit Kindern offen durch die Welt zu laufen, ohne auf etwas zu stoßen, das mittelbar oder unmittelbar mit den 12 Jahren nationalsozialistischer Diktatur in diesem Land zu tun hat. Ich wüsste nicht, wie ich das anders erklären könnte, ohne Hitler zu nennen. Soll ich mein Kind anlügen?

Theo ist gerade neun geworden und geht in die 4. Klasse. Neulich hatten wir Elternsprechtag. Ich habe seine Klassenlehrerin gefragt, ab wann man Hitler und den Nationalsozialismus thematisieren sollte. „Das ist jetzt schon Thema bei uns“, antwortete sie. „Als wir in HSU (das ist das Schulfach Heimat- und Sachunterricht in Bayern) vor der Bundestagswahl über die parlamentarische Demokratie gesprochen haben und warum wir sie haben in Deutschland, fiel sofort der Name Hitler.“ Nationalsozialismus sei in der Grundschule noch nicht explizit Thema, aber der Name Hitler fiele schon im Unterricht. Und dann gehe sie darauf ein.  

Ein Tabuthema gibt es für die Klassenlehrerin allerdings: „Über den Holocaust sprechen wir noch nicht. Die Kinder sind neun Jahre alt. Das hat noch Zeit.“ Da bin ich bei ihr. Unser Theo ist extrem sensibel. Er muss noch nicht erfahren, wie Hitler und die Nazis Millionen von Juden in den Konzentrationslagern ermordeten. Wie sie auch Kinder vergasten und Menschen wie Ungeziefer behandelten. Aber wir werden bald darüber reden. Er erfährt es ohnehin irgendwann.  

Auch wenn es einigen Leuten nicht passt: 76 Jahre nach Hitlers Tod und dem Ende dieser Schreckenszeit sind der Nationalsozialismus und seine Spuren in Deutschland gegenwärtig – sichtbar, auch und speziell für Kinder. Überall stehen Bauwerke, die in dieser Zeit oder in der Folge dieser Zeit entstanden. Kinder sind neugierig, sehen Gebäude, lesen Gedenktafeln und stellen Fragen. Mit Vogelschissen sollte man seine Zeit wirklich nicht vergeuden. Hitler und der Nationalsozialismus gehören nicht dazu.


7 Lesermeinungen

  1. bluejackDE sagt:

    Kinder fragen...
    …solange und so weit sie ein Thema interessiert. Auf mehr Details über dieses Interesse hinaus sollte man verzichten – bei nächster Gelegenheit wird es weitere Fragen geben, auf die man dann eingehen kann. Auf dieser Grundlage habe ich schon viele spannende (aber aus meiner Sicht naturlich viel zu kurze und oberflächliche) Gespräche mit meinen Kindern gehabt. Sie kommen aber wieder zu mir, wenn sie soweit sind.

  2. Bildungsmeyer sagt:

    „War Hitler ein guter oder böser Mann?“ Diese Frage stellte ich im Jahr 1948 meinen…
    …damals als Flüchtlingen mittellosen Eltern auf einem 5-km Marsch vom Bahnhof Fallersleben in eines der weiter entfernten Dörfer. Mein Vater antwortete tatsächlich und ich habe es nie vergessen: „Hitler hat dem Volk zu viel zugemutet; deshalb hat er den Krieg verloren!“ Ich habe die weitere Erklärung nicht mehr genau im Kopf aber mein Vater wollte sich auf „gut“ oder „böse“ wohl nicht festlegen. Ich bin sicher, daß viele Russen so oder so ähnlich heute(!) noch über Stalin denken.
    Was die Pädagogik im Verhältnis zum 3.Reich betrifft, bin ich mir nicht so sicher. Ich war vor 5 Jahren noch ganz betroffen, als ich mir den Tagebau Dora in Nordhausen angeschaut habe. Nach dem Besuch des KZ’s nahm ich halbwüchsige Schüler/innen wahr. Die giggelten und lachten nur herum. Der Pflichtbesuch war umsonst!

  3. Hutchy sagt:

    Es gibt Gut und Böse in der Welt
    Gerne möchte man seine Kinder in einer heilen Welt belassen mit Weihnachten, Kindergeburtstagen, Urlaub am Meer und was alles noch.
    Doch auch an Weihnachten toben Kriege, an Kindergeburtstagen gibt es Autounfälle und im schönen Mittelmeer sind schon tausende Mogranten gestorben.
    Haben Deutsche in der Geschichte immer nur Gutes getan?
    Wir müssen für die Fragen, die uns Kinder zu solchen Themen stellen, dankbar sein, denn sie signalisieren, dass sich hier ein junger Mensch mit der Welt, in der wir leben, auseinandersetzten möchte.
    Ich habe mir angewöhnt, die Dinge beim Namen zu nennen, wenn ich von meinem Sohn gefragt werde, wohlwissend, dass ich der kindlichen und insbesondere der eigenen Desillusionierung Vorschub leiste. Dies allerdings einhergehend mit einem Erkennisgewinn und einem Gewinn an Reife – auf beiden Seiten!

  4. mausi56 sagt:

    Die aktuelle Entwicklung lässt sich bestens
    als Einstieg in das Thema nutzen.

  5. oskartheo sagt:

    Aus der damaligen Sicht
    die zerstörte Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche als Mahnmal so stehen zu lassen, kann man Verständnis aufbringen. Mahnmäler stehen idR. für Ereignisse der Vergangenheit, die unvorstellbares Leid über die Menschen gebracht haben. Da nun speziell Berlin eine Unmenge aller möglichen Gedenkstätten aufzubieten hat, könnte sich bei allem guten Willen die Gewohnheit einschleichen, in der gebotenen Masse das eine oder andere Mahnmal nicht so zu würdigen, wie es ihm angedacht sein sollte. Mein (kühner) Vorschlag wäre, diese Kirche schon wegen ihrer architektonischen Besonderheit und zentralen Lage wieder so aufzubauen, wie sie einmal war, ohne ihre historische Vergangenheit als „Hohler Zahn“ der Vergessenheit angedeihen zu lassen.

  6. olvrkrg sagt:

    Titel eingeben
    „Es wurde von einem Mann regiert, der die ganze Welt beherrschen wollte. …“ – Dazu hätten wir gerne eine Quelle – sonst ist es nämlich nur die Propaganda Roosevelts. Diesen kleinen Unterschied können die Kinder nicht früh genug lernen.

  7. micalo66 sagt:

    Wann?
    Natürlich erst, wenn die Kinder in der Lage sind, geschichtliche Dinge im zeitlichen Kontext zu sehen und nachdem sie die Vorgeschichte kennen, die zu Hitler führte.
    Beides setzt eine gewisse Reife und eine solide Bildungsbasis voraus. Sonst könnte sich der gewünschte Aufklärungseffekt leicht ins Gegenteil umkehren, denn Eltern sind leider nicht die einzigen, die irgendwann „mit Hitler anfangen“.

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