Dieses Jahr verbringt Lara die Silvesternacht nicht mit uns, der Familie, sondern mit Freundinnen. So muss es sein für eine Siebzehnjährige, wenn auch ein zweites coronabedingt mit Einschränkungen. Die Gästeliste der ursprünglich geplanten Silvesterparty musste stark gekürzt werden. Geblieben ist ein Mädchenabend. Aber immerhin, es ist eine deutliche Spaß-Steigerung im Vergleich zum Vorjahr. Silvester 2020 hockte Lara mit Freundin Gina am Silvesterabend bei meinem Mann, Maya und mir notgedrungen zu Hause am Küchentisch.
Jetzt freut sich Lara trotz Einschränkung auf den letzten Abend des Jahres 2021. „Ach, das wird nett, auch ohne Party, nur wir Mädchen“, ist sie sicher und fragt dann, wie wir den Abend zu verbringen gedenken. „Wie immer“, antworte ich. „Es gibt Raclette und Knabberkram, wir spielen Brettspiele und brennen Tischfeuerwerk ab. Nichts Besonderes.“
„Ihr macht Raclette?“, fragt Lara gedehnt. „Ohne mich?“
Ich schaue verwundert, denn soweit ich es mitbekommen habe, startet die Mädelsrunde ebenfalls mit Raclette. Und Trinkspiele á la Wahrheit oder Pflicht bringen doch ebenfalls viel mehr Fun als Spiel des Lebens oder Tabu. Darauf angesprochen, findet Lara: „Das ist einfach etwas anderes.“ Dann überlegt sie, ob sie zu Hause schlafen soll oder nicht. „Du machst doch Neujahrsfrühstück, oder? So wie jedes Jahr?“
Es ist nicht so, dass mein Neujahrsfrühstück etwas Besonders darstellt. Nichts, auf das man nicht verzichten könnte. Ich decke den Tisch am ersten Tag des Jahres etwas netter als üblich, mit Neujahrs-Servietten, Kerzen, Streukonfetti, und jeder bekommt sein Neujährchen. Letztes Jahr gab es Marzipanfiguren, dieses Jahr ein kleines Porzellanschweinchen. Und Raclette ist doch Raclette! Überall gleich!
Ich wundere mich ein wenig über meine Tochter. Ich fand es letztes Jahr traurig, dass Lara den Silvesterabend mit uns verbringen musste. Eigentlich ist Lara doch immer für eine Party zu haben?! Sie verfügt über einen großen Freundeskreis, ist alles andere als eine Stubenhockerin und immer gerne unterwegs. Soziale Kontakte sind ihr sehr wichtig. Ihre Freiheit noch mehr! Und jetzt macht sie ein langes Gesicht, weil sie zu Hause Raclette und Frühstück verpasst?
Manchmal, wenn ich ihr mit meiner Anwesenheit oder zu vielen Fragen oder Befehlen („Räum gefälligst die Küche auf, nachdem du gekocht hast“; „Sag mal, musst du nicht langsam was für deine Facharbeit tun?“; „Jetzt liegen im Bad schon wieder deine nassen Handtücher auf dem Boden“) auf die Nerven falle, seufzt sie, dass sie es gar nicht erwarten kann, endlich von zu Hause wegzukommen und auszuziehen. Voller Vorfreude erzählt sie dann von ihren Zukunftsplänen. Dass sie davon träumt, nach dem Abi einige Work-und-Travel-Monate in Afrika zu verbringen oder eine längere Sprachreise und ein Praktikum in den USA zu absolvieren oder für ein Studium in eine coole Stadt wie Hamburg oder München zu ziehen – ach was, nicht Hamburg oder München, lieber direkt New York oder San Francisco. Welt, ich komme, sobald du mich nur lässt! Lara will raus. Abenteuer und Neues erleben. Reisen. Heimweh kennt sie nicht.
Im Sommer war sie mit einer Freundin für ein paar Tage allein auf Städtetour. Dieses Jahr soll es endlich ein größerer Urlaub mit Freundinnen werden. Busreise nach Spanien. Das Virus lässt es hoffentlich zu. Die Anzahlung hat sie bereits zusammengespart. „Aber in den Familienurlaub komme ich trotzdem mit“, sagt sie, selbst, wenn sie sich mit Maya ein Zimmer teilen muss. Letztes Jahr noch betonte meine Große, dass sie zum allerletzten Mal mit uns in den Urlaub fahren würde. Sie wäre nun zu alt, um sich mit der drei Jahre jüngeren Schwester ein Zimmer zu teilen und mit den Eltern am Strand abzuhängen. Ich nickte zustimmend und freute mich, als sie in den Sommer- und Herbstferien doch mitwollte. Wir hätten sie nicht gezwungen, denn nichts kann einem den Urlaub mehr vermiesen als ein dauerhaft nörgelnder Teenager. Sicher, teilweise war ihre Entscheidung der Pandemie geschuldet, die Jugendlichen im Moment kaum bis gar keine Planungssicherheit bietet. Aber im Großen und Ganzen fühlt sich Lara im Kreise unserer kleinen Familie, in der alles so vertraut ist und wo sie sich ungezwungen bewegen kann, einfach wohl (zumindest die meiste Zeit) und außerdem kostet sie Unterkunft und Verpflegung keinen Cent. Das weiß Lara, seitdem sie arbeiten geht, inzwischen ebenfalls zu schätzen.
Als Kind war sie ein echter Wirbelwind, der stets von seiner unfassbaren Neugierde und Fantasie angetrieben wurde. Es war ihr beispielsweise nahezu unmöglich, neben mir an der Brottheke zu stehen, während die vielen Gänge des Supermarktes so vielversprechend und geheimnisvoll auf sie warteten. Dort gab es so viel zu entdecken, man konnte sich wunderbar verstecken und rumrennen. Wir mussten sie täglich regelrecht auspowern. Strukturen, Rituale und ein geregelter, verlässlicher Tagesablauf waren daher wichtig, damit sie runterkochen und zur Ruhe kommen konnte.
Im Kindergarten und Grundschulalter hielten wir an einer strikten Abendplanung fest: Spätestens um 18.30 Uhr gab es Abendessen, danach durfte Lara fernsehen: Erst das Baumhaus, dann das Sandmännchen und anschließend die 19-Uhr-Sendung auf Kika. Nach Waschen und Zähneputzen lasen wir Lara noch eine halbe Stunde vor. Lara liebte Rituale. Wahrscheinlich spürte sie, wie sehr sie diesen Halt brauchte. Sie wurde nervös, wenn ihr fester Ablauf in Gefahr geriet. „Lilly, du musst jetzt gehen. Ich muss Abendessen und dann Yakari gucken“, sagte sie einmal streng und verzweifelt zugleich zu ihrer besten Kindergartenfreundin, als diese sich partout nicht zur verabredeten Zeit um 18 Uhr von ihrer Mutter durch unsere Haustür schieben ließ.
Heute dürfen ihre Teenager-Freundinnen so lange bleiben und bei uns übernachten, wie sie wollen. Und das tun sie oft und gerne, aber manchmal würde Lara dann doch gerne die ein oder andere Freundin mit den Worten: „Du musst jetzt gehen. Ich muss Yakari gucken“, wie früher aus dem Haus befördern, wenn es ihr zu viel wird.
Jeder kennt dieses Gefühl nach Klassenfahrten oder Gruppenurlauben: Nachdem man nonstop mit anderen Menschen aufeinander gehockt hat, sehnt man sich nach einer Tür, die man hinter sich zuziehen kann – am liebsten zu Hause. Der elterliche Heimathafen bietet Sicherheit und Geborgenheit. Dort spielt es keine Rolle, wie alt man ist. Ein Teil darf hier für immer das Kind bleiben, das man einmal war. Man muss sich weder verstellen noch zusammenreißen oder sich erwachsen benehmen. „Jana ist immer so entsetzlich früh aufgestanden“, erzählte Lara nach ihrem Städtetrip im Sommer. „Es war schön mit ihr, aber anstrengend“, und freute sich anschließend auf ihren „entspannten“ Urlaub mit uns.
Silvester will Lara bei der Gastgeberin schlafen, entscheidet sich dann zu fortgeschrittener Stunde doch für das eigene Bett zu Hause. Am Neujahrsmorgen steht sie auf, um mit uns zu frühstücken. Abends werfen wir den Raclette-Grill an. Wir haben kurzfristig umdisponiert und am Silvesterabend etwas anderes gegessen, damit wir am ersten Tag des Jahres mit der gesamten Familie gemütlich sitzen und essen können.
Irgendwann wird Lara in See stechen, um ihr eigenes Leben zu führen. Wer an der Küste bleibt, kann keine neuen Ozeane entdecken, sagte einst der Seefahrer Ferdinand Magellan. Vielleicht zieht Lara nach Hamburg, München oder sogar nach New York. Vielleicht bleibt sie uns in der Nähe erhalten. Wer weiß das heute schon. Aber egal, wohin es sie in ein paar Jahren ziehen mag – sie weiß, dass sie jederzeit den sicheren Heimathafen ansteuern kann, wo sie immer das Kind bleiben wird, das sie einmal war.