Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Hat mein Kind keine Freunde?

Jeden Tag um kurz nach drei klingelt es Sturm. Unsere Tochter Frida (7) kommt nach Hause. Sie verabschiedet sich von unserem Nachbarsjungen, mit dem sie den Vier-Minuten-Heimweg von der Schule bestreiten. Gut fünfzehn später kommt ihr Bruder Theo (9) nach Hause. Mit beiden Kindern habe ich Tag für Tag den gleichen Minidialog: „Hallo Papa.“ „Hallo! Wie war´s in der Schule?“ „Gut.“

Zugegeben, diese unbestimmte Frage enthält schon ein gewisses Maß an Bräsigkeit. Wenn ich mich richtig erinnere, haben meine Eltern mich das auch immer gefragt. Ziemlich sicher habe ich auch jedes Mal mit „gut“ und ohne weitere Ausführung geantwortet. Und höchstwahrscheinlich fanden meine Eltern diese nichtssagende Kommunikation irgendwie unbefriedigend. Wie wir heute, hatten meine Eltern damals sicher auch ein aufrichtiges Interesse an unserem Schulalltag. Der Frage, warum wir unsere Kinder, obwohl wir es besser wissen müssten, genau wie unsere Eltern damals bräsig und unbestimmt fragen, wie es in der Schule war, wäre es sicher mal Wert auf den Grund zu gehen. Allerdings nicht heute und nicht in diesem Text.  

Nach der Begrüßung verkrümeln sich Theo und Frida meistens für etwa dreißig Minuten in ihre Zimmer. Die eine spielt mit ihrem Pferdehof, der andere macht ein Hörbuch an und bolzt einen Schaumstoffball quer durch sein Zimmer. Irgendwann tauchen die beiden dann wieder auf und machen Hausaufgaben. Und wenn sie damit fertig sind, kommt jeden Nachmittag das Gleiche: „Papa, dürfen wir fernsehen? Papa, darf ich Fifa und Frida mit ihrem Tablet spielen?“ Seit den Weihnachtsferien geht das so. Jeden Tag. Spielekonsole oder Fernsehen, etwas anderes scheint sie nicht zu interessieren. Andere Kinder schon gar nicht.

Natürlich kommen sie damit nicht (immer) durch. Ich animiere die beiden zu anderen Dingen. Aber das ist ungeheuer anstrengend, und außerdem nervt es mich. Ich frage mich, ob die zwei wirklich nichts mit sich anfangen können und vor allem, warum sie sich nicht verabreden. Ob sie keine Freunde haben?

Ein einsam wirkendes Kind ist ein schwer erträglicher Anblick.
Ein einsam wirkendes Kind ist ein schwer erträglicher Anblick.

Frida ist von ihrem Wesen her schüchtern. Sie hat inzwischen Freundinnen in der Schule gefunden. Wenn sie sich verabredet, müssen wir sie unterstützen. Außerdem konnte sie sich schon immer stundenlang allein beschäftigen. Aber Theo? Der spielt Fußball im Verein, kennt viele Kinder in seiner Schule, ist offen, selbstbewusst und geht auf Leute zu. Manchmal habe ich Zweifel, ob diese Einschätzung noch stimmt. Der Junge hat sich verändert. Er ist ruhiger geworden. Anders als früher erzählt er kaum noch von der Schule. Man muss es ihm förmlich aus der Nase ziehen. Bedrückt ihn was? Hat er Sorgen oder gar Kummer? Warum ist er so oft allein?

Wenn ich an meine Grundschulzeit denke, denke ich an Sven. Sven war mein bester Freund. Er hatte einen großen Garten und dazu eine riesige Wiese am Wald. Jeden Tag haben wir stundenlang Fußball gespielt, zwischendurch Wasser aus einem rostigen Hahn in der Waschküche seiner Großmutter getrunken und Beeren vom Busch gegessen. Eine Bilderbuchkindheit mit einem Bilderbuchfreund. So einen Sven hat Theo nicht.

Vielleicht hätte er ihn in Berlin gehabt, aber wir sind vor ein paar Jahren weggezogen. Zwei, dreimal im Jahr treffen wir seine alten Freunde noch. Mit denen versteht er sich immer noch blendend. Besser als mit seinen Freunden hier, bilde ich mir ein. Oder kommt mir das nur so vor, weil ich die Zeit mit den Freunden bewusster erlebe als unseren Alltag? Da sind wir im Urlaub, seinen Schulalltag bekomme ich ja nicht mit. Sehe ich ein Problem, wo gar keins ist? Mache ich mir unnötig Gedanken?

Meiner Frau habe ich neulich bei einer Wanderung von meinen Sorgen erzählt. Auch sie hat Theos Veränderung bemerkt, aber meine Skepsis teilt sie überhaupt nicht. „Der Junge ist von acht bis fünfzehn Uhr in der Schule“, rechnete sie mir vor. „Das sind sieben Stunden, in denen er ununterbrochen mit seinen Leuten zusammen ist. Er lernt mit denen, sie essen gemeinsam Mittag und spielen. Der freut sich doch, wenn er um kurz vor halb vier zu Hause ist und seine Ruhe hat. Du kannst das nicht mit früher vergleichen. Wir kamen in der Grundschule um zwölf Uhr nach Hause. Da stand das Mittagessen auf dem Tisch.“ Ich nickte. Sie war aber noch nicht fertig. „Außerdem spürt er den Druck, die Noten sind wichtiger geworden. Im Sommer geht er auf eine neue Schule. Das beschäftigt ihn natürlich.“ Sie seufzte. „Und außerdem haben wir Januar, den längsten Monat der Welt. Es ist Corona und das Wetter ist Mist. Warte ab, wie es im Frühling aussieht. Da rennt er wieder draußen rum.“ Ich grummelte irgendwas und dachte nach.

Am Wochenende habe ich Theo geholfen, seine Schulsachen zu sortieren. Dabei fiel mir ein bunter Zettel in die Hände. „2022 – worauf ich mich freue und worauf ich mich nicht freue“. Den hatten sie vor Weihnachten bekommen. Theo freute sich auf Silvester mit seinen Cousins, auf die neue Schule und ist aber traurig, dass er dann einige seiner Freunde aus der Klasse nicht mehr sehen wird. Also doch, Kinder in seiner Klasse bedeuten ihm was und umgekehrt scheint es auch so zu sein.

Seit ich vergangene Woche beschlossen habe, diesen Text zu schreiben, hat er sich mit drei Kindern verabredet. Auch Frida hatte eine Freundin zu Besuch. Unsere Kinder verändern sich. Das ist wohl das, was man Entwicklung nennt. Sie machen Phasen durch, sind laut, wild, und selbstbewusst, dann plötzlich wieder sensibel, zerbrechlich und haben auf einmal wie vor Jahren Angst im Dunkeln. Sie sind gesellig und dann wieder gerne allein. Warum neigen wir dazu, uns vorzumachen, dass früher alles besser war? Warum hängen wir dem nach und verklären unsere eigene Kindheit zum Paradies, wenn die der eigenen Kinder anders läuft? Theo wird seinen Weg gehen, mal mit Freunden, mal alleine und ganz selten genauso, wie sein Vater es sich wünscht.

Ich denke an Sven. Im Januar war seine Wiese zu nass zum Fußballspielen, und an den Sträuchern wuchsen keine Beeren. Was er wohl macht? Nach dem Wechsel von der Grundschule auf die Orientierungsstufe kam André, später auf dem Gymnasium Tobias, Marcus und Michael …