Manchmal gibt es unversehens Situationen, in denen uns unser Kinder ganz besonders nah sind. Näher als morgens beim Frühstück oder bei den Hausaufgaben, beim Zähneputzen oder Uno Spielen. Solche Momente kommen einfach so. Vorausahnen kann man sie nicht und herbeirufen schon gar nicht. Es sind Momente, in denen eine Tür aufgeht, die sich selten öffnet. Selbst, wenn das Verhältnis zwischen Kind und Elternteil noch so innig und vertraut ist. Ich liebe diese Situationen, diese Magic Moments.
Neulich abends saß ich lesend im Wohnzimmer, als unsere Tochter Frida (8) die Treppe herunterkam. Ich bemerkte gleich, dass ihr etwas auf dem Herzen lag. Langsam und zögerlich, aber trotzdem bestimmt kam sie zu mir. Ich legte mein Buch zur Seite. „Was ist los, mein Schatz?“, fragte ich. Sie setzte sich und fragte leise: „Papa, darf man in der Schule so sein wie zuhause?“ Ich stutzte. „Wie meinst du das?“ Sie überlegte kurz: „Naja, weißt du, hier bin ich so wie ich bin. Ich tanze und bin verrückt. In der Schule bin ich nicht so. Da wäre mir das peinlich.“ Ich nickte. „Um was geht es denn? Warum bist du in der Schule anders?“ Sie zögerte. „Ich bin verliebt.“ „Oh“, ein großes Wort für eine Zweitklässlerin, dachte ich, antworte aber stattdessen: „Das ist doch schön.“ „Ja, aber ich weiß nicht, ob ich es dem Jungen sagen soll oder besser nicht. Er heißt Tom.“ „Hm, das ist auch nicht leicht zu beantworten. Wenn dir das unangenehm ist, dann warte ab. Du musst es Tom doch auch nicht sagen.“ Sie sah mich unglücklich an. „Weißt du, ich habe es Greta gesagt.“ „Dass du in Tom verliebt bist?“ Sie nickte und sah noch unglücklicher aus. „Oh, und Greta hat es Tom gesagt?“ Frida sah mich empört an. „Nein, hat sie nicht!“ Jetzt stand ich auf dem Schlauch. „Was ist dann das Problem?“ „Sie hat ihm gesagt, dass sie ihn toll findet und er hat sie auf die Wange geküsst. Und mich nicht!“ Jetzt kullerten ein paar Tränen. „Jetzt versteh ich“, seufzte sich. „Weißt du, Frida, das ist eines der schwierigsten Dinge, die es gibt – auch für Erwachsene.“ Ich strich ihr über den Kopf. „Wir können nie wissen, wem wir vertrauen können. Wir lernen das, je älter wir werden, mit jedem neuen Freund oder Freundin, die wir kennenlernen.“ Sie hörte mir aufmerksam zu. „Manchmal wird man enttäuscht von Menschen. Man verrät ihnen ein Geheimnis, und sie sagen es weiter. Das ist dann doof und tut weh. Aber so bekommen wir nach und nach ein Gefühl dafür, wem wir etwas anvertrauen können und wem nicht. Verstehst du?“
Wir nahmen uns in den Arm. Ich überlegte: „Frida, vielleicht ist es besser, wenn du in der Schule ein bisschen zurückhaltender bist. Aber zu sehr verstellen solltest du dich auch nicht. Das ist gut. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Greta das nicht so böse meint. Aber was vertrauliche Dinge angeht, würde ich bei ihr künftig etwas vorsichtiger sein.“ Sie nickte. „Wichtig ist, dass du weißt, dass du hier zu Hause alles sagen kannst: Mama, Theo (ihrem zehnjährigen Bruder) und mir.“ „Ist gut Papa.“
Nach diesem sehr ernsten und wichtigen Gespräch wollte ich uns ein bisschen zerstreuen. Das funktioniert immer mit Musik. Frida liebt es, zu tanzen und mit mir Musik zu hören. Musikvideos anzusehen. Wir sind uns dabei sehr ähnlich. In der Arte-Mediathek fand ich ein Livekonzert von Amy Winehouse. Frida mag am liebsten, wenn Frauen singen. Genau das richtige, dachte ich.
Konzert-Location war ein altes Theater in London. Als Amy Winehouse auf die Bühne kam, entschuldigte sie sich zuerst. Offenbar hatte sie das Publikum warten lassen. Dann ging es los. Man muss die Geschichte des kurzen Lebens der Sängerin gar nicht kennen, um zu bemerken, dass sie unter Drogen- und Alkoholeinfluss stand. Die Aufnahme war von 2007, vier Jahre vor ihrem Tod. Amy Winehouse stand unsicher am Mikrofon. Sie war angeschlagen. Immer wieder griff sie nach einem der beiden riesigen Becher vor sich. In einem war ein heller, im anderen ein dunkler Drink. Leben und Tod, dachte.
Ihre Stimme hatte noch Kraft, aber bei Frida sprang der Funke nicht über. Die Musik war nicht ihr Ding. Mich dagegen berührte der Auftritt mehr, als mir lieb war. Da stand dieses junge, zerbrechliche, spindeldürre Mädchen mit der riesigen schwarzen Frisur und noch größerem Talent und versuchte sich über den Abend zu retten. Sie sprach zwischen den Songs immer wieder zu dem Publikum und zu ihren Musikern, aber es war eine einseitige Konversation. „Du armes Kind“, dachte ich. „Warum hilft dir niemand?“
Dann begrüßte Amy ihren Vater und ihre Stiefmutter. Die beiden saßen in einer Loge mit bester Sicht auf die Bühne. Ich fragte mich, wie der Kerl es auf seinem A-Platz aushalten konnte, seiner vollgedröhnten Tochter dabei zuzusehen, wie sie zwanzig Meter von ihm entfernt „Rehab“ sang? Das ist einer ihrer größten Hits, in dem sie sich weigert, eine Entziehungskur zu machen. Wie kann der Mann das ertragen? Wie kann er sich das ansehen? Warum holt er sein Kind nicht von der Bühne oder hat zumindest so viel Anstand zu Hause zu bleiben? Eine Loge weiter saß Amys Ehemann. Ein Mistkerl, ein Junkie, der sie zu den Drogen brachte, sie mehrfach hinderte, eine Entziehungskur zu machen und somit eine Mitschuld an ihrem Tod mit 27 Jahren trägt.
„Was ist los, Papa?“ Frida sah mich ernst an. „Ach, weißt du, ich ärgere mich und bin traurig. Die Sängerin ist gestorben.“ „Warum ist sie denn gestorben?“ „Sie hat Drogen genommen.“ „Warum?“ „Weil sie unglücklich und einsam war und dachte, damit geht es ihr besser.“ Ich nahm Frida in den Arm. „Wir müssen immer schauen, dass wir uns gut verstehen und jemanden haben, der uns zuhört, wenn es uns nicht gutgeht.“
Am nächsten Tag kam Frida aufgeregt aus der Schule. „Papa, Tom hat mich auf die Wange geküsst!“