In Tschechien wurde es lange verschwiegen, doch das Pilsner Urquell, das am Martinstag vor 175 Jahren zum ersten Mal ausgeschenkt wurde, hat ein Bayer erfunden. Gespräch mit dem früheren Präsidenten der tschechischen Brauer über ein europäisches Gesamtkunstwerk.
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Im Jahr 1838 hatten es die Pilsener Bürger und Wirte endgültig satt. Das dunkle, obergärige Bier, das ihnen von den örtlichen Brauereien wieder einmal vorgesetzt worden war, war sauer und nicht trinkbar. Aus Protest schütteten sie, wie es heißt, drei Dutzend Fässer in den Rinnstein. Anschließend beschlossen sie, ein neues Bürgerbrauhaus nach dem neuesten Stand der Technik zu bauen und beauftragten den Braumeister Martin Stelzer, sich in Europa umzusehen. Gebraut werden sollte in Pilsen hinfort ein Lager-Bier, das sich in Bayern erfolgreich durchgesetzt hatte.
In dem aus Vilshofen stammenden Niederbayern Josef Groll fand Stelzer einen Braumeister, der über die nötigen Kenntnisse verfügte, zudem brachte Groll eine untergärige Hefe mit nach Pilsen. Außerdem entschied er sich für die Nutzung des laut “Oxford Companion to Beer” in England entwickelten, sich indirekter Befeuerung verdankenden hellen Gerstenmalzes. Das ungewöhnlich weiche Wasser Pilsens und der berühmte Saazer Hopfen, der in unmittelbarer Nähe angebaut wurde, taten ein übriges zur Erfindung eines neuen Bierstils. Am 5. Oktober 1842 kochte Groll mit diesen Zutaten seinen ersten Sud.
Am 11. November wurde das neue Pilsner Bier dann zum ersten Mal ausgeschenkt, in durchsichtigen Trinkgläsern, die sich damals in Europa erst durchzusetzen begannen und die die ungewöhnlich goldene Farbe der neuen Biersorte zur Geltung brachten. Die Pilsener waren zufrieden – heute hat sich das helle Lager mit der anregenden Bittere als mit Abstand beliebteste Biersorte in der ganzen Welt durchgesetzt. Eine Rolle mag dabei gespielt haben, dass die Pilsener ihr Bier erst 1898 als Schutzmarke eintragen ließen.
Zum 50-jährigen Jubiläum, 1892, wurde in Pilsen das im Neorenaissance-Stil gehaltene Brauereitor errichtet, das heute auf dem Etikett der Flasche prangt. Das Jubiläumsjahr 1942, mitten im zweiten Weltkrieg, wurde eines der dunkelsten in Böhmen. Und auch das Jahr 1992 war schon wieder ein besonderes. Tschechien spaltete sich von der Slowakei ab – und die Pilsener Brauerei war nach der Privatisierung durch mehrere Hände gegangen, bis sie zuletzt vom japanischen Braukonzern Asahi gekauft wurde.
Hat sich der Geschmack des Pilsner Urquell in den letzten Jahrzehnten verändert, ist über die Jahrzehnte hinweg etwas Unverwechselbares verloren gegangen? Wir haben den tschechischen Brauer-Präsidenten der frühen neunziger Jahre gefragt.
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F.A.Z.: Ist das 175. Pilsner-Jubiläumsjahr in diesem Herbst ein nationales Ereignis in Tschechien?
Stanislav Procházka: Ja, es gab schon am 5. Oktober ein großes Fest auf dem Hauptplatz in Pilsen. Auch für das Fernsehen und die Zeitungen in Tschechien ist das ein großes Ereignis. Das Bier ist für die Tschechen allgemein ein großes Thema, da fühlt sich fast jeder kompetent, und ist davon überzeugt, dass auch das schlechteste tschechische Bier besser ist als manche ausländische Topmarke. Tschechien hat auch mit Abstand den größten Pro-Kopf-Bier-Verbrauch der Welt.
Ab wann waren Sie Präsident des tschechischen Brauerbundes?
Ich war Präsident von der Gründung im Jahr 1990 bis ins Jahr 1995.
Wie war die Situation von Pilsner Urquell nach der samtenen Revolution 1989?
Die Brauerei wurde privatisiert, einige tschechische Banken und Kleinaktionäre haben Aktien gekauft, jedoch ist der größte Aktionär bald von ausländischen Unternehmen übernommen worden, so ist die Internationalisierung der Gruppe zustande gekommen. Auf das Bierbrauen haben diese Bewegungen wenig Einfluss gehabt. Es ist bis heute unklar, was in der Zeit der Privatisierung damals genau passiert ist. Jedenfalls hat die japanische Holding Nomura das Geschäft stabilisiert und Pilsner Urquell an South African Breweries (SAB Miller) verkauft.
Nach dem Zusammenschluss von SAB Miller und der Inbev-Gruppe musste Pilsner Urquell aus kartellrechtlichen Gründen verkauft werden. Heute gehört es zur japanischen Asahi-Gruppe.
Ja, das ist sehr gut. Japanische Unternehmen sind sehr traditionsbewusst. Asahi will Pilsner Urquell noch besser vermarkten.
Hat sich der Geschmack von Pilsner Urquell in den letzten mehr als 25 Jahren verändert? Als Deutscher mag man einen früheren Geschmack verklären, weil man Pilsner Urquell bis in die neunziger Jahre hinein nur schwer beziehen konnte.
Das ist sehr schwer zu sagen. Eines steht fest: Geschmack vergisst man. Wenn eine Brauerei Schritt für Schritt den Geschmack ein wenig ändert, dann fällt das niemandem auf – bis zu einer gewissen Grenze. Es darf nicht übertrieben werden. Einige Brauereien haben aus Kostengründen so lange den Geschmack Schritt für Schritt verändert, bis die Gaststätten irgendwann gesagt haben: Dieses Bier ist nicht mehr zu trinken. So musste ein Rückzieher gemacht werden mit „zurück zu der Original-Rezeptur“ oder „der Braumeister garantiert“.
Ich persönlich trinke Pilsner Urquell gerne, ich liebe diesen vollmundigen und zugleich bitteren Geschmack, aber ich kann nicht sagen, ob er sich in den letzten zwanzig Jahren verändert hat oder nicht. Mein subjektiver Eindruck ist: In guten Gaststätten schmeckt es noch genauso wie früher. Ob das wirklich so ist, kann eigentlich nur der Braumeister von Pilsner Urquell beantworten.
Wie war die Situation bei Pilsner Urquell in der Zeit nach der samtenen Revolution? Im “Oxford Companion to Beer” liest man, das Bier habe in dieser Zeit noch in Holzfässern gegoren.
In die tschechischen Brauereien wurde vor der Wende kaum investiert. Es gab einen unglaublichen Mangel. Pilsner Urquell und Budweiser bekamen immerhin ein bisschen Geld für Investitionen und Modernisierung. Brauereien wie Staropramen, die nur in Comecon-Länder exportiert haben, waren in einer noch schwierigeren Situation, von den anderen Brauereien nicht zu sprechen. Als die Wende kam, war Pilsner Urquell besser vorbereitet als andere Brauereien. Die Sache mit den Holzfässern kann man aber nicht als Vorteil verkaufen. Es gab damals neun Kilometer lange Lagerkeller mit großen Holzfässern, bis der damalige Generaldirektor von Pilsner, Pavel Gregoric, 1992 das Risiko auf sich nahm, hundert Edelstahltanks zu kaufen und die Technologie total umzustellen. Heute ist Holz nur noch eine Marketing-Sache für die Besichtigungsgruppen, die an ein paar Fässern vorbeigeführt werden. Sie sind aber gefüllt mit Bier, es wird darin vergoren und gelagert.
Holz, das, wie man liest, bei Pilsner Urquell gepicht war, hat wohl ohnehin kaum einen Einfluss auf den Geschmack, oder?
Ja, es gab auch mal die Diskussion, ob Pilsner Urquell noch aus Tanks schmeckt, die höher sind als zwei Meter. Es hat sich gezeigt, dass das keinen Einfluss auf die Qualität hat.
Sie würden sagen, die Umstellungen bei Pilsner waren ein richtiger Schritt?
Ja, das war es wirklich.
Geschmeckt hat man den Unterschied damals nicht?
Nein, das kann ich nicht behaupten.
Was man im Oxford Companion noch liest, ist, dass die Gärzeit von 70 auf 35 Tage verkürzt wurde.
Aber das haben doch alle Brauereien in der Welt gemacht. Glücklicherweise, muss man sagen, wird Pilsner Urquell klassisch gebraut, ohne High Gravity Brewing.
Können Sie erklären, was das ist?
In vielen Sudhäusern braut man nicht die endgültigen Biere, sondern eine wesentlich stärkere Version, die durchgegoren und gelagert wird. Mit einer computergesteuerten Einheit wird dann dieses konzentrierte Bier mit speziell vorbereitetem Wasser vermischt. Mit dem Computer wird dann genau gesteuert, wie viel Stammwürze das Endprodukt haben soll.
Warum hat man früher 70 Tage gären lassen, wenn es 35 Tage auch tun?
Die 35 Tage reichen nur beim Einsatz moderner Technik. Früher, als man noch mit Holzfässern gearbeitet hat, hat sich jede Temperaturänderung ausgewirkt, das Gären hat daher wesentlich länger gedauert. Bei den heutigen Tanks kann man das viel besser steuern, unter perfekter Kontrolle des Labors. Das ist heute auch in allen deutschen Brauereien so.
Wird heute also ein besseres, konstanteres Pilsner Urquell gebraut?
Die Brautechnologie hat drei Stufen erlebt. Die erste Stufe hat ein paar tausend Jahre gedauert. Das war eine experimentelle Phase, die Braumeister haben ihr Wissen von Generation zu Generation weitergegeben. Vor 150 Jahren hat man dann unter dem Mikroskop Brauereihefe gefunden, man konnte Reinzuchthefen erzeugen. Damals hat der Braumeister Rohstoffe geliefert bekommen, die, je nach Ernte, immer unterschiedlich waren. Nur durch seine Erfahrung konnte er am Ende ein immer gleiches Produkt herstellen. Er war Künstler. Seit fünfzig Jahren dominieren die Computer. Was ist heute Brauwesen? Etwas wieder vollkommen anderes. Die Standardrohstoffe wie Malz werden heute, etwa durch Mischung, so vorbereitet, dass sie immer die gleiche Qualität haben, auch beim Hopfen wird die Qualität standardisiert. Und Brauwasser kann heute wirklich jeder in die Zusammensetzung überführen, die er für sein Bier braucht. Der Braumeister bekommt heute also schon beim Eingang der Rohstoffe standardisierte Qualität. Er kontrolliert dann auf dem Weg zum Bier, zusammen mit dem Labor, ob das Produkt in dem Rahmen bleibt, den er braucht. Am Ende steht ein standardisiertes Produkt.
Heute ist der Braumeister kein Künstler mehr.
Früher war der Braumeister King in der Brauerei, heute ist er das nicht mehr.
Eigentlich schade, oder?
Ja, das ist schade. Aber diese Tendenz hat andererseits die Renaissance der Minibrauereien ermöglicht. Dort bestimmt wirklich noch der Braumeister, dort ist das Produkt noch von der Qualität des Braumeisters abhängig.
Kommen wir zu dem Braumeister-King Josef Groll aus Niederbayern, der in Pilsen vor 175 Jahren eine neue Biersorte erfunden hat, die heute an Beliebtheit alle anderen um Längen hinter sich lässt. War das eigentlich in der Tschechoslowakei und danach bekannt, dass das Pilsner Urquell ein Deutscher erfunden hat?
Früher hat niemand davon gesprochen. In diesem Jubiläumsjahr ist es überall zu hören und zu lesen. Jetzt ist das bekannt. Ich habe das aber schon lange gewusst.
Inwiefern war Grolls Erfindung genial?
Ah, das war Zufall! Er hatte gute Möglichkeiten. Er hat auf der einen Seite gutes Malz bekommen, guten Hopfen aus Saaz, und das Wasser ist in Pilsen zufällig sehr weich. Dann hat er das Drei-Maische-Verfahren eingesetzt – und das war’s. Damals wurde noch experimentiert, heute bekommt der Braumeister das Rezept vom Computer vorgegeben.
Aber es ist doch erstaunlich: Groll kommt nach Pilsen und gleich einer der ersten Sude, die er macht, ist schon eine Weltsensation, auch wenn das erst mit der Zeit klar wurde.
Ja, solche Sachen gibt es.
Groll hat vor allem gut analysiert, oder? Er hat geschaut, was er an Rohstoffen hat – das für die damalige Zeit ungewöhnlich helle Malz, das er einsetzte, fußte auf einer Innovation aus England, aus Bayern schmuggelte er eine untergärige Hefe nach Böhmen – und das Produkt sah auch noch hervorragend aus.
Ja – er war Visionär. Einer wie Elon Musk heute.
Zu lesen ist auch, dass die industrielle Produktion von Trinkgläsern sich damals gerade durchsetzte. In einem Tonkrug hätte das erste Pilsner sicher keinen so großen Effekt erzielt.
Ja, diese Farbe, diese goldene Farbe und dieser dicke, sahnige Schaum, das kam alles zusammen.
Warum hat sich gerade das Pils weltweit durchgesetzt, sehen wir einmal von der Tatsache ab, dass die Pilsner Brauerei Jahrzehnte lang die Patentierung versäumte?
Ganz einfach: Was ist das beste Bier? Es ist eines, das ich bestelle, austrinke und sofort Lust habe, einen nächsten Krug zu bestellen. Das ist das allerbeste Bier. Wenn ich heute die vielen Spezialitäten in den Minibrauereien sehe, muss ich sagen, es ist oft so: Man trinkt ein Glas und hat keine Lust ein zweites zu bestellen. Das bringt keinen Gewinn. Das Pils motiviert. Wenn es gepflegt vom Wirt serviert wird, hat man Lust auf ein nächstes.
Tschechien ist bekannt dafür, größten Wert auf Schanktechnik zu legen, das Thema ist ein Dauerbrenner in den tschechischen Kneipen. Was kann der Wirt im Gegensatz zur Flasche noch aus dem Bier herausholen?
Das sind zwei ganz unterschiedliche Sachen. Pilsner Urquell steckt nicht umsonst so viel Geld in die Ausbildung von Wirten. Gut gepflegtes Fassbier hat gerade beim Pils eine besondere Vollmundigkeit. Fassbiere sind auch nicht so stark pasteurisiert wie Flaschenbiere. Aber es ist in Gasthäusern inzwischen leider auch dreimal so teuer. Der Rückgang von Fassbier, den es inzwischen auch in Tschechien gibt, ist für Brauereien wirklich unangenehm. Die Billigbiere gibt es bei uns inzwischen in Zwei-Liter-PET-Flaschen. Aber das sind Volksbiere, das hat mit Pilsner Urquell nicht zu tun. Andererseits: Wenn Pilsner Urquell den Preis erhöht, ermöglicht es anderen Brauereien nachzuziehen.
Welches Bier müsste man heute erfinden, um dem Pils den Rang abzulaufen?
Ich kann mir das nicht vorstellen. Es gibt heute Tausende Biere, die es vergebens versucht haben. Man muss auch sehen: Europa ist für die großen Konzerne heute nicht mehr interessant. Bierverkauf in Europa ist heute mit zu vielen Kosten verbunden. China, Russland, Südamerika, das sind Zukunftsmärkte. Und auch hier hat das Pils seine Stellung bestätigt – man trinkt gerne ein zweites Bier. Bier heißt Geselligkeit und die ist überall schön.
Die Fragen stellte Uwe Ebbinghaus
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Stanislav Procházka, geboren 1940, hat sein Leben im Brauwesen verbracht. 37 Jahre lang arbeitete er in der Brauereigruppe Staropramen in Prag, die letzten zwölf Jahre als CEO. Er war Gründer und von 1990 bis 1995 erster Präsident des Tschechoslowakischen Brauerverbandes. Seit 2011 ist er Präsident des BierConvent International. Procházka schrieb mehrere Lehrbücher zur Brauereitechnologie