Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Der Gesellschaftsfinger. Lob eines aussterbenden Distinktionsmerkmals

Es gibt Themen, mit denen macht man sich keine Freunde. Und es gibt Trennendes, an dem die deutsche Klassengesellschaft schmerzlich im einfachsten Gegensatz zum Vorschein kommt: ich schon. Du nicht. Nun ist dieses Blog vor 99 Beiträgen damit angetreten, eine offene Aussprache über den deutschen Elitenbegriff, genauer, den Elitenbegriff des alten Westdeutschlands anzufachen, und ich möchte nicht 100 Beiträge schreiben, ohne nicht zumindest einmal den Fressfeinden, die an den Stützen der Klassengesellschaft nagen und schmatzen, ins Auge zu blicken und genau das sagen: Ich schon immer. Ihr niemals. Und ihnen damit meinen Gesellschaftsfinger in die Augen zu rammen.

In Paris empfängt man zum Tee. Es ist so, ob es euch gefällt oder nicht.
Coco Chanel, Die Kunst, Chanel zu sein.

Dieser 99. Beitrag dieses Blogs ist diffizil, weil er, um es grob zu sagen, vermutlich indirekt die Mehrheit der Leserschaft beschuldigen wird, nicht über jene Tischmanieren zu verfügen, die man nicht später erlernen kann. Andererseits ist es einer jener Beiträge, die ich schon immer schreiben wollte, denn: Geld kann man anhäufen, Dialekte ablegen und Adelstitel durch Adoption erwerben. Aber neben dem grossen Bereich der Familiengeschichte kann man auch den Gesellschaftsfinger, das automatische Abspreizen des kleinen Fingers bei Teetrinken, nicht kaufen oder erlernen. Das bekommt man entweder als Kind durch Vertreter der besseren Familiengeschichte mit, oder man kann es später nicht. Vielleicht sollte ich daher zuerst etwas über meine Familiengeschichte erzählen. Bitte, nehmen Sie Platz, darf ich Ihnen einen Tee einschenken?

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Tee – wenn Sie etwa die Lebenserinnerungen von Coco Chanel kennen, wird Ihnen vielleicht die Stelle aufgefallen sein, wo die junge Coco in der französischen Provinz unbedingt eine Teegesellschaft ausrichten will, wie in Paris. Auf dem Kontinent war Tee bis weit in die Nachkriegszeit stets das Getränk der besseren Kreise. Wenn Sie heute auf einem Flohmarkt ein reines, altes Teeservice von Hutschenreuther, Arzberg, KPM, Opaque de Sarreguemines oder Limoges finden – greifen Sie zu, auf dem Kontinent stammt es mit Sicherheit aus einem besseren Haushalt. Kaffee trank man am Tag und in allen Schichten. Tee war das Privileg jener, die sich zwischen vier und fünf eine Pause leisten konnten, und definierte damit eine Klassengrenze zwischen jenen, die Herren über ihre Zeit waren, und jenen, die ihre Zeit verkaufen mussten. Niemand wäre für Klassengrenzen geeigneter gewesen als zwei Frauen, die jede für sich eigentlich Relikte längst vergangener Epochen waren: Eine Grosstante mütterlicherseits und das, was in den französischen Romanen des 18. Jahrhunderts als junge Witwe beschrieben wird, die von den Zuwendungen der Familie ihres geliebten, früh verstorbenen Mannes lebt, und sich nun ganz ihren Kindern widmet.

Meine Grosstante war als junge Frau in England. Eine reiche Deutschschweizerin hatte sich im Tessin den 3. Sohn eines britischen Adligen shanghait und dann auf der Insel festgestellt, dass ihr die Briten auf Dauer etwas zu förmlich waren. Also schaute sich ihr Vater unter der Bekanntschaft auf dem Kontinent um, ob da nicht eine passende und vorzeigbare Gesellschaftsdame zu finden sei, und kam schliesslich auf meine Grosstante. Die wurde nach London in ein grosses Haus verfrachtet, wo sie das daheim verbotene Rauchen lernte, und, wenn die Dame in der Schweiz war, in eine Pension, in der man typischerweise Kinder von Maharadschas, Amerikanern, Kanadiern und anderen Koloniebewohnern unterbrachte. Die Erziehung daheim war noch gut und traditionell – in der Pension in England bekam meine Grosstante den letzten Schliff. Natürlich spreizte man dort den kleinen Finger ab.

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Und natürlich wurde mir das von ihr auch so beigebracht. In den Augen meiner Grosstante war das englische Benehmen und die englische Klassengesellschaft zeitlebens das Non Plus Ultra; sie hatte ein Faible für englische Mahagonimöbel, das ich neben einem derartigen Schrank von ihr erbte, und natürlich auch für englische Teesitten. Ich war ein begeisterter Schüler, was mir bald darauf zur Ehre gereichte, als die besagte Witwe nach einem Knaben suchte, der bereit war, zusammen mit ihren Töchtern das richtige Benehmen zu lernen – Türe aufhalten, Damen den Vortritt lassen, die richtige Begrüssung, die richtige Berührung der Hand, leicht und unverbindlich, auftragen, einschenken – und natürlich Tee trinken. Ihre Begeisterung über meinen natürlich abgespreizten kleinen Finger, den “Gesellschaftsfinger”, war ein weiterer Anlass, mich als “kleinen Cavalier” zu bezeichnen.

Man verstehe mich nicht falsch, das war kein Drill, sondern spielerisch, ihre Töchter wurden später stadtberühmte Schönheiten, und wir waren mit kindlicher Begeisterung bei der Sache. Kinder gieren nach Anerkennung, und uns ging es nicht anders. Wir wollten das können. Niemand konnte sich damals vorstellen, dass diese Welt keinen Bestand haben würde, und nur anderthalb Jahrzehnte später vom Privatfernsehen und vom Anschluss der DDR hinweg gefegt werden würde, jenem Momentum der Geschichte, in dem sich zwei stilfeindliche Phänomene zusammenfanden, um neue Regeln und Sitten zu definieren, an deren Ende Asoziale, TV-Moderatoren, Modellkokotten, Plattenproduzenten, Adoptionsadel, Autovermieter, Billigdelikatesshändler, Kinder bayerischer Politiker aus kleinsten Verhältnissen und anderes Gschleaf dem staunenden TV-Konsumenten als Promigesellschaft präsentiert werden. Dort gibt es natürlich keinen Gesellschaftsfinger, weil es auch keine Gesellschaft ist.

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Das Erstaunliche aber ist – spricht man heute über jene Sitte, erscheint es vielen als “pikiert”, “übertrieben” oder gar “unangemessen”. Dabei ist es vollkommen unmöglich, gutes Porzellan anders zu greifen; die obigen Beispiele stellen die Formen des 18. und 19. Jahrhunderts vor, bei denen der Raum zwischen Untertasse und Henkel so klein ist, dass beim Zugreifen nur Raum für höchstens drei Finger bleibt. Man kann diese Tassen nicht anders greifen; der Gesellschaftsfinger rutscht automatisch in jene Position, in die er gehört. Es gibt viele Theorien, warum man das macht; etwa, dass man am französischen Hof nicht am Zimmer des Königs klopfen, sondern nur mit dem kleinen Finger kratzen durfte, und mit dieser Fingerstellung beim Tee signalisierte, zum Kreis jener zu gehören, die zum König Zutritt hatten. Es sei ein Zeichen des Respekts vor dem Gastgeber, oder eine Haltung, um den Siegelring zu präsentieren.

Die drei schlüssigsten Theorien jedoch sind in meinen Augen: 1. Meine Grosstante machte es so, und natürlich hat meine Grosstante wie immer recht. 2. Meine von ihrem Mann geschiedene Freundin Iris, die eine ähnliche Erziehung genoss, hält es für wichtig, weil man gerade am kleinen Finger sehen kann, ob der Mann gepflegte Hände hat, und man an solchen Details erkennt, was einen erwartet und berührt – der Trottel, den sie geheiratet hat, hatte natürlich keinen Gesellschaftsfinger. Und 3. Es hat sich einfach als Distinktionsmerkmal durchgesetzt, bewährt und kann bestens zur Diskriminierung Dritter verwendet werden (“Pardon, ich würde Ihnen ja gerne einen Becher anbieten, aber leider haben wir hier keine billigen Werbegeschenke, deren Bedienung Ihnen nicht gar so fremd sein dürfte, Sie Armer. Leider kann ich es Ihnen auch nicht erlauben, aus der Untertasse zu schlürfen.”).

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Sie glauben ja gar nicht, was man alles neben der Kürbistarte so runterschluckt, wenn das Gegenüber keine Tischmanieren hat. Ich bekomme da regelmässig Gewaltphantasien. Dieses Jahr etwa beim Palazzo Canossa in Mantua – dort schaufelte ein Jungitaliener Zeug in dem Mund und redete kauend, dass ich am liebsten sein Gesicht in den Teller gedrückt hätte. Meine Grosstante seligen Angedenkens stand hinter mir und sagte: Tu es. Tu es für mich, tu es für England, setze ein Zeichen, das hier ist Notwehr, alle werden es begrüssen. Ich tat es natürlich nicht. Aber ich werde natürlich weiterhin den kleinen Finger abspreizen. Weil ich es nicht anders kann.

Und weil es jene, die im Cafe noch schnell die Plastikflasche leersaufen, bis das Platik knackt, natürlich nicht tun. Weil es in Berlin deplaziert wirkt. Weil es unter ungehobelten Menschen Standard ist, es nicht zu tun. Weil es unterscheidet zwischen jenen, die ein Teeservice besitzen, und den armen Schweinen, die sich dickwandige Becher mit Werbeaufdruck schenken lassen müssen, die man, tief und kantig, dann auch nie richtig sauber auswaschen kann, weshalb sie mit eingetrockneten Resten neben dem Rechner vor sich hingammeln, und damit Zeugnis ablegen von der Verbindung von “Convenience” und Kleinverslummung. Natürlich arbeiten Zeit und Massenmedien gegen mich, und der Klassiker der Idiotie all jener, die etwas nicht verstehen, was sie nicht kennen – das ist ja schwul/dekadent/bescheuert et. al.  – wird auch vorgetragen. Von jenen, von denen man genau das hören will. Die dürfen gern weiter ihre Becher in den Büros leerschlucken. Deshalb sind sie ja dort und müssen das Projekt fertig machen, bis um 8, kann aber auch länger dauern, gerade keine Zeit, der Chef kriegt sonst einen Anfall. Da sind sie.

Und ich bin am Tegernsee. Darf ich Ihnen noch etwas Tee einschenken?