In every city, in every nation,
from Lake Geneva to the Finland station
Pet Shop Boys, West End Girl
Es ist früh am Morgen, und ich muss nach Frankfurt. Ich stehe auf und begebe mich zum Kleiderschrank. Mein Kleiderschrank dient meiner Familie seit 101 Jahren; 1907 hat mein Urgrossvater das Eichenmonstrum mit den schwarzglänzenden Schnitzereien in Nürnberg gekauft, mit der Bahn in die bayerische Provinzstadt bringen lassen, und in den kommenden Tagen war die bessere Gesellschaft hier, um den Schrank – aus Nürnberg! da, wo die Protestanten leben! Fast skandalös! – ausgiebig zu bewundern. So war das damals. Heute wäre es undenkbar.
Dass ich hier darüber schreibe, ist ein Tabubruch. Nach den Vorstellungen der Nachkommen dieser besseren Gesellschaft redet man darüber nicht. Und schon gar nicht öffentlich. Ab und zu werden Radiointerviews mit mir ausgestrahlt – dann geht meine Mutter in den Garten, jätet Unkraut und hofft, dass ich nichts sage, was den Nachbarn Anlass zu Getuschel gäbe. Man sagt hier auch nicht, dass man reich ist – man jammert nur über den Aufwand mit der Anlage KAP bei der Steuererklärung. Niemand hat jemals Geld in die Schweiz gebracht, solange es nicht aufkommt. Reich, das sind ohnehin immer nur die anderen. Etwa den Elektrohandel-Aufsteiger mit den Chromkapitellen an den Säulen seines Palladioverschnitts – köstlich, dieser Trottel, aber offiziell gibt es keinen Klassenkampf von oben. Dass sich der lokale Ölmogul als Betrüger erwies, dass der Playboy später auf der Strasse endete, sind Hinweise des Schicksals, bieder unter seinesgleichen zu bleiben; und wenn man vor hundert Jahren die besten Häuser in der Stadt hatte, wohnt man heute wieder zusammen – im Westviertel.
Westviertel sind immer gleich, vom Genfer See bis nach Finnland, die Grundstücke sind gross, ein See ist in der Nähe, und der Schulweg der Kinder führt nur durch das Viertel und vielleicht noch einen Park. Man kommt erst gar nicht mit Blockbewohnern in Berührung. Das gibt es dort nicht. Man bleibt unter sich. Jeder geht auf das Gymnasium. Wer es nicht schafft, kommt ins Internat. Studienwahl ist eine Sache der Mütter, am besten noch zu Grundschulzeiten. Ein Arzt ist immer noch ein Arzt, und wenn er später durchdreht und in der Station 36 landet – redet man nicht darüber. Die Versicherung zahlt den Schaden der zertrümmerten Wohnung.
Wenn ich nicht nach Frankfurt müsste, könnte ich auch an den Tegernsee fahren. Der Tegernsee ist landschaftlich grandios und ein riesiges Westviertel, eine chemisch reine Ansammlung der besseren Gesellschaft. Sogar die Wasserleichen sind hier gepflegt und schmuckbehängt. Bayerische Könige, Heinrich Himmler, Thomas Mann und Ludwig Erhardt, sie alle schätzten diesen See. Entsprechend hoch sind die Immobilienpreise, und sorgen für eine nachhaltige Auswahl der Zuzügler. Makler sagen lieber, dass es sich um eine gehobene Lage handelt. Auf Bayerisch: Kein Gschwerrl, nur mit den Fussballern muss man leben. Nicht öffentlich erwähnen sollte ich, dass der Erwerb meiner Wohnung einem gewissen Verkaufsdruck auf den vorherigen Besitzers geschuldet ist, der sich im grauen Kapitalmarkt verspekuliert hat. Momentan leidet die ganze bessere Gesellschaft unter der Wirtschaftskrise, im feinen Rottach-Egern tragen sie die Pelze des letzten Jahres auf, und ein wenig Botox reicht statt der teuren Rundumrenovierung auch. Aber das darf man nicht laut sagen.
Die Stützen der Gesellschaft hassen es zurecht, wenn dergleichen Probleme im Müll der modernen Medien plattgetreten wird, sie meiden TV-affine Unterschichten und das Geschrei der Moderatoren. Aber eigentlich sind sie gar nicht so unglücklich, dass sich viele in die Scheinwerfer drängeln, und für sie kein Platz in den Medien ist. Sie haben recht. Ich fahre los, ersetze den unerträglichen Mornigshowgockel mit der Missa Salisburgensis, und erreiche beim Agnus Dei Schloss Weissenstein bei Pommersfelden, wo ich in einem Café Torte kaufe. Gegenüber tuscheln rosa Tanten über den bedauerlichen Zustand der Welt und über neue Todesfälle.
Ich fahre weiter nach Frankfurt und gebe zu bedenken, wie unterhaltend das sein könnte, über das Wesen des Bürgertums zu schreiben, über die Veränderung, die Schattenseite und die Damasttischdecken, die über all das ausgebreitet werden, und über das Porzellan, an dem man sich festhält, wenn die Tochter sich scheiden lassen will. Das verschwiegene Bürgertum ist eigentlich ein grossartiger Gegenstand der Betrachtung, denn seit der Tante Jolesch und Bel Ami hat es nichts von seinem pittoresken Wesen verloren. Man ist im Frankfurter Verlagshaus sehr wohl der Meinung, dass man darüber reden sollte, und so werde ich in Zukunft ein Weblog FAZ.net schreiben, eines dieser neumodischen, aber amüsanten Internetmedien, mit dem schönen Namen “Stützen der Gesellschaft”.
Und hoffen, dass es die Nachbarn nicht erfahren.