Und aus diesen Gründen werden wir mit der zynischesten Sprache, den unsittlichsten und gottlosesten Ideen das Verbrechen beschreiben, wie es ist, das heißt, stets triumphierend, immer zufrieden und beglückt.
D.A.F. de Sade. Justine
Ich glaube nicht an den Staat, an Gott oder an die Ehre der Banken. Sie haben mich durch den Wald von Wackersdorf gejagt, ich habe meinen Candide gelesen, und ich kenne die Berater, die Lehman-Zertifikate verticken. Ich glaube an die gottlose Schönheit der Einöde auf den Stilfser Joch, an den Schweizer Franken auf einem Schweizer Konto gleich hinter der Grenze, und die Bereitschaft meines Staates, mich im Zweifelsfall mit Hartz IV zu diskriminieren. Trotzdem mag ich den grundlosen Glauben meiner Klasse an Gott, den Staat und das Recht auf Eigentum. Sie nehmen aus der Kirche ein simples und bewährtes moralisches Gerüst mit, wenn sie die Mühen der Ethik meiden. Sie betrachten den Staat als Beschützer ihrer Interessen und Wohngebiete, in denen die Polizei dezente Zivilfahrzeuge benutzt. Sie sehen in den Banken die Garanten für ihr Vermögen und dessen nachhaltiges Anwachsen zu Reichtum, der sie am Ende an den Tegernsee bringt. Das sind die archaischen Stützen der Gesellschaft, Altar, Thron und Bank. Brüchig, falsch und verlogen mag das Konstrukt sein, aber meine Klasse ist mit diesen Überzeugungen der stabilisierende Kern der Gesellschaft. Es gibt diesen Menschen Vertrauen und Zuversicht, und wenn sie dann im ersten, zaghaften Sonnenschein des Februars am Strand des Yachtclubs Picknick machen, Wein trinken und Delikatessen aus Tegernsee verzehren, kann selbst ich nicht umhin, diese kindische Ruhe und Zuversicht schön zu finden.
Gestern ganz besonders. Weil man sich fragen muss, ob dieser Zustand, der uns heiratswillige bessere Töchter und gebildeten Nachwuchs, stabile politische Verhältnisse und eine schöne Sparquote garantiert, noch lange Bestand haben wird. Und das liegt nur teilweise an der momentan alles beherrschenden Wirtschaftskrise, die zum Nachdenken und Umschichten anregt. In meinem Umfeld jedenfalls fühle ich arge Zweifel an diesen drei Säulen, die man nicht mehr mit Sicherheit, sondern mit einem infernalischen Trio verbindet, das für das Versagen von Kirche, Staat und Banken stehen: Der Papst Josef Ratzinger, der Bahn-Chef Mehdorn und Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank. Jeder dieser Herren sollte eigentlich eine Stütze der Gesellschaft und Smbol für den Fortbestand des Goldenen Zeitalters sein. Aber mit ihrem aktuellen Verhalten zeitigen sie meiner Klasse eher das absolute Gegenteil: Zyniker wie mich, die mit dem Roadster und einer geschiedenen Freundin nach Graubünden brausen, statt mit dem ICE eine Taufe zu besuchen und dem Kinde ein Konto zu schenken, wie das früher üblich war.
Da haben wir also Herrn Ratzinger, der letzte absolutistische Herrscher Westeuropas nach dem Ende der absoluten CSU-Mehrheit in Bayern, und für die Katholiken der Stellvertreter Gottes auf Erden. Verzeihen Sie mir, wenn ich hier die Angelegenheit so drastisch wiedergebe, wie man sie hier äussert. Wenn sein Vorgänger eine harte Enzyklika veröffentlichte, oder Entscheidungen traf, die selbst in Bayern nicht mehr zeitgemäss erschienen, sagte man: Mei, er is hoid a Pole. (In Wirklichkeit war es noch, äh, deutlicher) Man intendierte damit, dass er aus einem Land mit sehr verknöcherter Tradition stammte, und wenn man diese Herkunft abzöge, könne man die Fünfe auch gerade sein lassen und einen alltagstauglichen Kompromiss für Scheidungen und Seitensprünge finden. Der aktuelle Papst dagegen ist kein Pole, sondern einer von uns. Der meint das so. Und ausgerechnet zum Jahresbeginn, wenn aus den Finanzämtern die Aufforderung zur Steuernachzahlung kommt und die Kirchensteuer schmerzt, leistet sich dieser Papst mit der Aufhebung der Exkommunikation von ultrakonservativen Katholiken, darunter auch ein knallharter Holocaustleugner, ein peinliches Spectaculum, egal, wie gerechtfertigt die Beendigung eines Schismas nach dem Codex Iuris Canonici (CIC) auch sein mag. Selten wurde in der Geschichte der alleinseligmachenden Kirche ein Schisma so zuvorkommend beendet. Man erklärte die Abweichler einfach zu Häretikern und hatte ohne die Spitzfindigkeiten des CIC ganz andere Mittel, um mit denen fertig zu werden. Anlässe jenseits extremer Positionen, die das 2. Vatikanum negierende Pius-Bruderschaft rauszuschmeissen, hätte es genug gegeben. Aber Rom sieht sich angesichts weltweiter Proteste lieber in der glaubensspezifischen Märtyrerrolle, öffentlich vorgeführt durch eine Verschwörung von Lesben, Atheisten, Medien und einer protestantischen Pastorentochter (!) aus der abgefallenen Uckermark. Die Uneinsichtigkeit und die Suche nach Schuld bei den anderen erweisen sich gerade in meinem Umfeld als vorzüglicher Anlass, Kirchensteuer und die antisemitischen Brüder im Glauben zusammenzählen – und sich und kommende Generationen dieser teuren Gesellschaft und ermüdender Schulstunden zu entledigen.
Die Inquisition, auf die man in Rom zugunsten der Abweichler verzichtet, taucht dagegen beim Staatskonzern Bahn wieder auf. Es ist nicht leicht, die Bahnbetriebe als freundlichstes Angebot des Staates an seine Bürger auszumachen; neben den technischen Unzulänglichkeiten gibt es eine lange Liste der Ärgernisse, angefangen bei der Dreistigkeit, Schaltergebühren zu verlangen, über die steigenden Kosten für schlechtere Anschlüsse bis hin zum Defizit der Bahn, für das der Bund aufkommen muss. Einer der Kostenfaktoren war die möglicherweise illegale Schnüffelei gegen die Mehrheit der Bahn-Mitarbeiter, die gerade scheibchenweise ans Licht kommt, von Mehdorn aber in einer Überheblichkeit klein geredet und verharmlost wird, als wäre er unfehlbar und nicht Angestellter einer Firma, die immer noch den Bürgern des Landes gehört. Auch jenen Bürgern und Mitarbeitern, die ausgeforscht wurden. “Übereifrig” nennt Mehdorn das Vorgehen, und denkt gar nicht daran, jetzt übereifrig den Rücktritt einzureichen. In meinen Kreisen fragt man sich derweil, warum man eigentlich Firmen wie Lidl wegen der Behandlung der Mitarbeiter meidet, wenn der Staat in seinen eigenen Betrieben ganz ähnliche Massnahmen duldet, zusammen mit einer vertuschenden Informationspolitik, die –
wiederum an Josef Ackermann erinnert. Der Banker, der die Kreditkrise des öfteren als vorbei, harmlos und unproblematisch einstufte, und gestern, als die Krise doch nicht wie erwartet vorüber war, einen Rekordverlust der Deutschen Bank verkünden musste. Der Mann, der 25% Eigenkapitalrendite versprach und seinen Aktionären heute einen Kurs beschert hat, der bei etwas mehr als 25% dessen liegt, was vor einem Jahr gezahlt wurde. Da hat manch einer mehr verloren, als ein Haus am See kosten würde. Ackermann ist der Unternehmenslenker, der für eine Postbankaktie 55 Euro zahlen wollte, die inzwischen für unter 10 Euro zu haben ist. Er ist Leiter der grössten deutschen Privatbank, der sich mit der Unvorhersehbarkeit der Märkte herausredet, obwohl er sein Gehalt kaum dafür bekommt, keine Ahnung zu haben und Milliardenverluste anzuhäufen. Mit der Folge, dass sich das dort investierte Bürgertum mit Sparsamkeit statt mit Immobilienanzeigen auseinander setzen muss.
In allen drei Fällen ist es die Arroganz der Macht, die dem Bürgertum seine Lage vorführt: Es zahlt Kirchensteuern für die Wiederaufnahme von Extremisten, die bürgerliche Freiheiten bekämpfen. Es bezahlt den Staat für eine Bahn AG, die ihm miserablen Service bei miserabler Behandlung der Mitarbeiter liefert. Und wer ausser dem Bürgertum soll im Privatkundengeschäft der Deutschen Bank mit Gebühren und Provisionen für die Verluste bezahlen?
Die Ikonographie der Schlächter: Der Glaube ist transzendent, aber diese uneinsichtige Kirche hat das Gesicht von Josef Ratzinger. Fahrpläne, Verspätungen und Datenabgleiche sind nur Listen und Zahlen, aber der mufflige Konzern hat den bittere Ausdruck von Hartmut Mehdorn. 5,7 Milliarden Verlust sind nicht vorstellbar, aber darüber grinst Josef Ackermann und hält das Victory-V, heute vielleicht eher Verlust-V in die Kamera, weil ihm trotzdem keiner etwas anhaben kann. In den eingefallenen Augenhöhlen, in den schmalen, bösen Lippen, im feisten Lachen, in dieser Ansammlung von Hybris, dem völligen Fehlen von Decorum, der dreisten Gewissheit, oben zu sein und zu bleiben, steckt die Herrschaft und die Unterdrückung der anderen, gegen die sich das Bürgertum immer wehren musste. Das Bürgertum hat viele Fressfeinde, den Neureichen und den Proll, den Promi und den unpassenden Schwiegersohn, aber der Todfeind ist immer noch derjenige, der diese Klasse spüren lässt, dass sie letztendlich nichts zu melden hat. Die bürgerliche Moral und Weltsicht wird nicht von den Lafontaines dieser Welt untergraben, sondern von denen auf dem Altar der Eigeninteressen geschlachtet, die ihren Fortbestand garantieren sollten, und dafür nicht schlecht entlohnt wurden.
Man täuscht sich allerdings im Bürgertum, wenn es friedlich am See sitzt und mit dem Weinglas in der Hand den Frühling fühlt. Das Bürgertum ist nicht revolutionär, aber es kann sehr renitent sein, und wenn ihm etwas nicht passt, hat es als einzige Schicht alle Möglichkeiten, sich für zentrale Bedürfnissen eine Alternative zu suchen. Manche werden vielleicht die Stimmen des Grauen Kapitalmarkts bevorzugen, die Moral der Kirche gegen die Amoral der Glotze eintauschen, und starken Sprüchen für das Aufräumen im Staate folgen. Gar nicht gefallen mag mir die Vorstellung, dass ein staatspolitisches Äquivalent zu den Schrottanlagen im Angebot der Wahlen sein könnte, denn schon bei der jetzigen Krise zahlen alle drauf. Die Wirtschaftskrise ist längst auch eine Krise des Vertrauens gegen morsche Institutionen, und deren Trümmer werden uns leider auch nach dem Ende von Rezession und der Ikonen der Gier beschäftigen.
Begleitmusik: Es ist bei solchen Gedanken nicht unangenehm, dazu Musik von einem Gefallenen zu hören, der – heute eher selten – an seinen Schuldgefühlen und Depressionen zugrunde ging, und diesen Vorgang vertonte. Carlo Gesualdo war ohne jede Frage ein weitaus schlechterer Charakter als der oben zitierte göttliche Marquis, selbst für seine Zeit um 1600 ein Scheusal, der die Stützen seiner Gesellschaft mit dem Blut seiner Frau, ihres Liebhabers und seiner Tochter tränkte. Der Legende zufolge hielt er sich einen Diener, der ihn täglich schlug, und auf dem Tonträger der Quinto Libro di Madrigali, den das Ensemble La Venexiana für das Label Glossa aufgenommen hat, sollte man auch besser nicht mit der Eingängigkeit eines Monteverdi rechnen. Gesualdo ist ein krankes Vergnügen –
das man hervorragend mit Börsenkursen aus Shanghai geniessen kann, wenn man gerade keinen Caravaggio oder de la Tour bei der Hand hat.
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