Vor mir erschien mit offnem Flügelpaar
Das schöne Bild, wo, selig im Vereine,
der Geister lichter Kranz verflochten war
Dante, Göttliche Komödie
Früher war es mit dem Katholizismus in Bayern einfach: Entweder man war dabei, dann war alles gut. Oder man war nicht dabei. Es ist noch gar nicht so lange her, frühe Bundesrepublik, da man sich am Bahnhof meiner Heimat am Schalter dumme Fragen gefallen lassen musste, warum man vom katholischen Altbayern denn unbedingt in das protestantische Pappenheim in Franken wollte. Ohne Beichtzettel gab es keine Heirat, da hatte man im Amt ein Auge drauf. Im Volksmund sagte man nicht “Dich mach ich fertig”, sondern “Dich mach ich katholisch”. Schulklassen waren konfessionell getrennt, aber alle Schulkinder mussten im Stadtmuseum den größten Stolz der hiesigen Bürger betrachten: Das ausgestopfte Pferd des protestantischen Schwedenkönigs Gustav Adolf, das man ihm bei der vergeblichen Belagerung der Stadt unter dem Hintern weggeschossen hat. Es gab Absprachen, an Schwule nichts zu vermieten, und wenn der Pfarrer die vom Pausenbrotgeld der Kinder abgezweigte Spenden nicht den kleinen, hungrigen Negern gab, sondern damit in der Gärtnerei zu Ostern prächtigen Blumenschmuck kaufte, dann war das eben so.
Falsch wäre es, das als Diktatur des Altars zu bezeichnen; als ich jung war, wurde diese Mentalität von niemandem in Frage gestellt, oder wenn doch, dann nur ganz leise und vorsichtig. Die übelsten Schläger der Schule waren in ihren Käffern die Ministranten. Über manchen Lehrer gab es böse Gerüchte, er sei noch nicht mal evangelisch, sondern Atheist. Rückblickend ist es daher erstaunlich, wie schnell die Macht der Kirche zerfallen ist: Herr H., der Vater eines Bekannten, der sich zu meiner Schulzeit noch mit einem Leserbrief im Heimatblatt über die fehlende christliche Gesinnung von Junglehrern beschwerte, ist, wie allgemein kolportiert wird, nicht nur ausgetreten, sondern berichtet nun auch von der eingesparten Kirchensteuer, als sei es der Osteuropafonds, dem er vor dem Beginn der Krise virtuellen und flüchtigen Reichtum verdankte. Und er ist damit angesichts schrumpfender Vermögen und mancher päpstlicher Einlassung weder der erste, noch der letzte.
Das heißt nicht zwangsläufig, dass man die Kirche wirklich ignorieren würde – ganz im Gegenteil, in den letzten Jahren entstand auf den Flohmärkten ein florierender Handel mit Spolien und Bruchstücken aus Kirchen. Das ist schick. Dennoch ist es kein Gewinn für die Kirche, wenn sich nun jeder einen Altar, Reliquienständer oder Kirchenleuchter in die Wohnung stellen kann. Man macht das, auch ich mache das, weil man darin die Kunst sieht, den Prunk, das handwerkliche Können, fern von jedem religiösen Zweck. In vergangenen Epochen ging das beste Kunstschaffen zwangsläufig in die Kirchen, diese Jahrmärkte priesterlicher Eitelkeiten, diese Theater des Glaubens, dort war das Geld und die Macht und die Prunksucht, gerade im katholischen Barock.
Heute kauft man das leichten Herzens, man grämt sich nicht wegen der entgoldeten Kirchen, man hängt es auf, weil es gefällt. Die Haltung gegenüber diesen Trümmern ist bestenfalls ambivalent. Man betrachtet sie wie jedes andere Fragment einer Ideologie, die einem nichts mehr sagt: Geldscheine aus der letzten Hyperinflation, DDR-Kitsch, historistische Möbel. Nur schöner. Und teurer.
Eine Religion, die zur Dekoration herabsinkt, die nur mehr als Trophäe für die Wand gesehen wird, die über die Wohnungen von Werbeagenturenbesitzer Eingang in schlechte Einrichtungszeitschriften findet, und deren Artefakte schon in Polen nachgefertigt werden, wird bald auch in Plastik verfügbar sein, gegossen in Südchina und vertrieben in Möbelhäusern billigster Natur, zum Zusammenschrauben und als Nachfolger des Buddhakopfes, dessen Entstaubung irgendwann zu mühselig wurde.
Natürlich empfindet man auch als atheistischer Bayer, der durchaus unter der Religion zu leiden hatte, ein gewisses Bedauern. Dieses verkitschte Ende des katholischen Landes hätte man nicht gewollt, diese langsame Ablösung von Traditionen, diese Altersschwäche einer Überzeugung, die es nie verstanden hat, einen angemessenen Mittelweg zwischen Beharrung und Fortschritt zu finden, und daran wohl angesichts der Aufgabe auch scheitern muss. Selbst die Partei, die lange glaubte, die Staatspartei zu sein, ist voll mit Geschiedenen und Betreibern gschlamperter Verhältnisse, und die Zeiten, da man sich über uneheliche Kinder noch aufregte, sind auch in Bayern weitgehend vorbei. 1200 Jahre galt das Wort des Papstes etwas, und selbst während der Konflikte zwischen Staat und Kirche gab es keinen Zweifel am richtigen Lebenswandel. Aber die letzten zwei Jahrzehnte haben aus den Anweisungen des Papsttums etwas gemacht, das effektiv für das Leben der meisten Menschen bedeutungslos ist, wenn sie nicht gleich austreten. Man hat heute Schwierigkeiten, diese Religion überhaupt noch zu begreifen.
Das ist schlecht für Rom, aber gestern war es gut für mich. Lag doch an einem Stand eine ganze Sammlung eines schwäbischen Ehepaares, dessen Erbe mit all den Klosterarbeiten, Statuen, Reliquien und Heiligenbildern nichts anzufangen wusste, und es für eine Handvoll Euro einem Händler überliess. Es war eine feine Sammlung, doch noch nicht einmal der dicke Putto mit seinen goldenen Flügeln entging der Verschleuderung an jedermann, der ein paar hundert Euro für die profanierten Reste des südwestdeutschen Rokoko auszugeben bereit war. Der Putto selbst war nicht so teuer, weil die Menschen ihn heute genauso missverstehen wie den Papst: Sie sind nicht in der Lage, ihn richtig zu betrachten.
So wie oben sieht er aus, wenn man ihn auf Augenhöhe betrachtet: Eine Missgeburt mit Wasserkopf, ein schräges, verzogenes Gesicht, ein dummglotzender Blick, ein junger Glöckner von Notre Dame, dessen Backen geschwollen sind, und dessen linkes Auge hängt. Als habe es sein Schöpfer nicht verstanden, ihn gefällig zu gestalten, als sei im Schaffensprozess aus einem liebenswerten Kind ein kleines, hässliches Monster geworden. Für den normalen Käufer ist das abstossend, man denkt an Krankheiten, Fehlgeburten und absolut nicht an ein himmelhochjauchzendes Wesen, das dieser Racker darstellt.
Das Problem derer, die ihn nicht erwarben und entsetzt ablegten, war die Augenhöhe und die Unfähigkeit, sich in dieses Himmelhochjauchzen hineinzudenken. Der Putto stammt vermutlich von der linken Seite eines Altars und jubelte einige Meter oberhalb des Betrachters. Man muss ihn also nur von links unten betrachten, und schon wird aus dem Wechselbalg wieder das, was er ist: Ein famoser Barockbengel, dessen Qualität sich aus der Fähigkeit des Schnitzers erklärt, ihn genau so zu formen, dass er nur von unten, aus dem Diesseits, zum süssen Fratz, zum Frauenherzenstürmer, zum gnadenlosen Kindchenschema mutiert. Nur aus dieser Position entwickelt er sein mokantes Lächeln, seine Augen blitzen und ja, gut, von mir aus, ich gebe es zu, ich habe einen FAZ-Wochenlohn, nein, ich kann da auch nicht einfach, über dem Gästebett sieht er einfach hin-reis-send aber lassen wir das.
Und reden wir über den Papst und Kirche. Die haben nämlich das gleiche Problem wie der Putto. Auf Augenhöhe der Moderne, als Medienfigur, als Teil der globalen Eventkultur, als Promi, wie der Papst öffentlich aufbereitet wird, kommt er. Vorsichtig gesagt, etwas unglücklich und schräg rüber. So unglücklich, dass das katholische Spanien ungestraft Kondome nach Afrika schickt, nur um dem Papst eins auszuwischen. So unglücklich, dass sich deutsche Bischöfe gegenüber den eigenen Extremisten empören. Man braucht einen sehr speziellen Blickwinkel, um alle Einlassungen Roms gut und stimmig zu finden, man muss von unten nach oben schauen, vom Diesseits in das Jenseits, dann funkelt weiterhin das Gold, die Gnade und die Weisheit strahlt herab, und man sollte andächtig verharren. Sonst funktionieren Kirche, Papst und Putto nicht mehr richtig.
Einen Putto kann man richtig aufhängen. Man könnte ihm sogar einen Bogen und einen Pfeil in die Hand geben, und schon hätte man einen weltlichen Amorknaben, und sein zuckersüssen Prinzip ist zeitlos. Dem Papsttum aber stehen diese Mittel nicht offen, es ist nur für die wenigsten noch oben, unten wird es dagegen mit Respektlosigkeit betrachtet, und diese alte Erscheinung der Kirche wird man auch nicht einfach umschnitzen können, damit die entglittenen Züge wieder stimmen, und die bessere Gesellschaft in Bayern nicht mehr austritt, um Steuern zu sparen. Es ist auch in Bayern nichts mehr, wie es einmal war.