Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Der fehlende Caravaggio in Santa Maria della Scala

In den Petersdom kann jeder gehen. "The winner takes it al", und in diesem Zusammenhang nimmt er alle Touristen. Die wirklich spannenden Kirchen Roms, die mit der nicht glattpolierten Geschichte, mit dem Plunder und dem versagen an der Kunst, werden gemieden. Das ist schade, denn sie sind zwar nicht schön, aber dafür um so geschichtsträchtiger. Wie Santa Maria della Scala in Trastevere.

Wissen Sie nicht, dass das Lesen der Schriften die katholische Kirche ruiniert?
Papst Paul V. (1605-1621)

[von Don Alphonso] Auf dem flachen Land ist es für Kirchen einfach, die Dörfer zu dominieren – sie sind das Zentrum der Ortschaft, alles Leben läuft auf sie zu, drinnen wird getauft und draussen begraben. In Städten wird das schon schwieriger, denn dort finden sich viele Kirchen. Es kommt zum Wettstreit um die schönsten Altarbilder und die höchsten Gewölbe, um die farbenfrohesten Priesterkleider und die segensbringendsten Reliquien. Elite sind sie alle, die Schäferhütten des Herrn, aber das reicht ihnen nicht, denn die Elite der Elite wollen sie sein. Und nirgendwo ist der Verdrängungswettbewerb härter als in der Hauptstadt der katholischen Christenheit, wo jeder Orden, jede Bruderschaft und jeder Würdenträger etwas Besonderes leisten wollte, um im Kampf um Awareness der Gläubigen vorne dran zu sein. Denn in Massen strömten die Pilger nach Rom, brachten Geld und Fürbitten mit, und wer da nicht etwas Besonderes zu bieten hatte, war eben nur eine weitere Kirche an der Ecke, von denen es in Rom ein paar hundert gibt.

Bild zu: Der fehlende Caravaggio in Santa Maria della ScalaSanta Maria della Scala ist so ein Gotteshaus, das das Rennen gegen die Konkurrenz lange Jahre mit vielen Mitteln geführt hat. So hat es die grösste Sammlung von zweitklassigen Kronleuchtern in den Bögen, die ich kenne. Es ist gnadenlos vollgestopft mit mehr oder weniger heiligen Nippessachen, es ist knallbunt und nicht wirklich ein Ausbund an feinem Geschmack. Es liegt in Trastevere, also jenem Viertel, dem die Päpste die Rolle des Rotlichtbezirks zuwiesen, in den Strassen wimmelte es laut zeitgenössischen Berichten von Prostituierten, Falschspielern und Hobbymördern auf der Suche nach Aufträgen. Trastevere war Seuchenherd und Nepp, Kloake und Armenhaus, ein unverzichtbarer Teil Roms und derjenige, vor dem heimische Bischöfe die Pilger eindringlich warnten. Heute ist der ehemalige Arbeiterbezirk Trastevere inmitten einer Gentrifizierung, die engen Gassen sind wieder eine Partymeile und der Quadratmeter Wohnfläche kostet schnell mal 6000 Euro, nur die Prostitution ist ausgelagert an die Schnellstrasse hinaus zum modernen Wohnkomplex EUR, dem Neuperlach oder auch der Gropiusstadt von Rom.

Man darf darüber debattieren, ob Santa Maria della Scala so viel ehrlicher und aufrichtiger ist als die Szenerie, die sie im 16. Jahrhundert umgab. Der Name – heilige Maria von der Treppe – verweist auf den Ursprung des wichtigsten Gegenstandes, der sich darin befindet. Der Legende zufolge soll ein Heiligenbild der Maria eines Morgens auf der Treppe gefunden worden sein, und während gottlose Kunsthistoriker dem Bild einen allenfalls mittelmässigen künstlerischen Wert sowie eine nichtgöttliche Herkunft zumessen, war man unter Klerikern der Meinung, dass dieses Heiligenbild eine Spende der allerobersten Instanz war, was als Wunder wirklich generös gewesen wäre: Die Katakomben von Rom waren zwar voll von Reliquien aller Art, aber da konnte natürlich jeder Presbyter kommen, eine Leiche ausgraben und dazu eine fromme Geschichte erfinden, was naturgemäss unter Konkurrenten zu übler Nachrede und Kritik an der Wundertätigkeit führte. Ein von oben geliefertes Gnadenbild, speziell für diesen Ort gestiftet, war etwas anderes. Das hatte nicht jeder. Das war sogar in Rom so selten wie der Zufall, dass der Hütchenspieler draussen hundertmal in Folge gewinnt, oder der Herr, der dem Besucher schnell die Tasche abnahm, einem nur beim Tragen helfen wollte. So selten war so eine Gabe.

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In der Zeit um 1600 jedenfalls war die Kunstgeschichte eine reichlich junge Disziplin und noch nicht so störend-besserwisserisch wie heute, und so erfreute sich dieser Bau am Strassenstrich durchaus einer gewissen Beliebtheit. Es war zu eben dieser Zeit, als die katholische Kirche die Gottesmutter Maria massiv aufwertete, um den von Prostestanten umworbenen Gläubigen eine Identifikationsfigur an die Hand zu geben. Man spekulierte eifrig über die Himmelfahrt Mariens, man räumte ihr einen dominanteren Platz ein, gleich nach der Dreifaltigkeit und bald auch als Schutzpatronin für die katholischen Soldaten, die es im 30-jährigen Krieg bei der Bekehrung auch nicht an Brandschatzung, Mord und Vergewaltigung fehlen liessen. Santa Maria della Scala hat von der Mode profitiert, und so verwunderte es auch nicht, dass der Jurist Laerzio Alberti genau dort eine Privatkapelle einrichten liess. Alberti hatte allen Anlass zur Dankbarkeit, war er doch Hausjurist des Papstes geworden, und um seinen Ruhm zu mehren, erteilte er 1604 den Auftrag für ein Gemälde des Marientodes an Michelangelo Merisi da Caravaggio, dem skandalösen Kunststar seiner Zeit, der mit dem Chiaroscuro, der dramatischen Helldunkelmalerei, heute als Wegbereiter der Moderne gilt.

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Caravaggio stellte seinen typischen Zeitvertreib – saufen, spielen, duellieren, durch die Unterwelt von Trastevere ziehen und vermutlich auch so manchen Geschlechtsakt ohne besondere Differenzierung des Geschlechts seiner Partner – für eine Weile ein und schuf den “Tod der Jungfrau“, der heute als eines der Hauptwerke der Barockmalerei im Louvre zu sehen ist: Eine junge, offensichtlich tote Frau mit nackten Beinen wird von den Aposteln betrauert. Es ist eine sehr menschliche Maria und ein sehr menschlicher Tod, vielleicht auch zu menschlich: Denn schnell verbreitete sich das Gerücht, Caravaggio habe eine stadtbekannte Prostituierte als Modell genommen. Was natürlich die Frage aufwerfen könnte, wieso überhaupt in ausgerechnet dieser heiligen Stadt eine Prostituierte so allgemein bekannt war, dass nach der Aufhängung des Bildes die Massen wie nie zuvor zur Santa Maria della Scala strömten – in einer Zeit, da es keine Massenmedien gab, ein durchaus bemerkenswerter Erfolg, der massgeblich zum Ruhme Caravaggios unter Europas Fürsten beitrug.

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Denn diese Maria ist heute nicht mehr in Santa Maria della Scala. Nach kurzer Zeit war es vorbei mit den nackten Füssen und der toten Jungfrau und dem Skandal: Man hängte das Bild bald ab und ersetzte es durch eine bedeutungslose die Augen verdrehende Jungfrau, die heute noch dort hängt, und, wie man anhand der Engel darüber annehmen darf, sogleich in den Himmel aufsteigen wird. Der Maler kopierte Caravaggios Technik, nicht aber seine Dreistigkeit, das Überirdische auf die Erde unter Hetären und Paragraphenhengste, Nepoten und Strauchdiebe zu bringen, er klotzte mit goldenen Hintergründen und fetten Engeln und erfreute sich bald unter Auftraggebern der Wertschätzung, die einst Caravaggio gegolten hatte. Der begnadete Maler mit seinem Hang zur Gewalt jedoch trieb es zu weit, er brachte im Streit einen Mann um, und diesmal schützte ihn niemand: Er musste aus Rom und Trastevere fliehen, reiste ein paar Jahre ziellos und getrieben umher, und starb 1610 beim Versuch, nach Rom zurückzukehren, an einer Krankheit. Sagt man. Andere munkeln von Mord. 

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Seine tote Jungfrau jedoch erfreute bald den englischen König Charles I, der das Werk kaufte, und danach die französischen Könige, die offensichtlich kein Problem damit hatten, eine tote Frau zu sehen, die möglicherweise in Trastevere mehr als nur nackte Beine zeigte. Santa Maria della Scala erhielt noch viel Kitsch und Plunder, verkam zu einer Rumpelkammer des Glaubens in einem schlechteren Viertel, und wer nur ein wenig Empfindung für Kunst hat, kann dort die Leere fühlen, die Abwesenheit, die verpassten und vergeudeten Chancen, die dummen Dünkel, die zur Ablehnung der Kunst führten, die Bereitschaft, sich mit Zweitklassigem abzugeben, wenn das Erstklassige zu mutig ist. Santa Maria della Scala verströmt die gleiche Hässlichkeit, die auch der provinziellen Elite zu eigen ist, die man flieht, wie Caravaggio damals in jungen Jahren aus der Provinz nach Rom geflohen ist, um dort an die Spitze der Kunst zu gelangen – und dort selbst erneut an all den Vorurteilen zu scheitern, die allen Schichten, Klassen, Religionen und Eliten immer und jederzeit zu eigen sind. Sie ist ein Monument der Dummheit, der Intoleranz und des Scheiterns an der Moderne, sie ist leer und vergessen, und wenn man es nicht weiss, ist es nur eine von den vielen hundert Kirchen Roms, fernab aller Strassen des sächsischen Pauschaltouristen, der gleichzeitig Leichenwurm der Religion und Trüffelschwein des allzu gewöhnlichen, weithin Bekannten ist.