“Wir gingen den Dom besichtigen. Dort fand der Herr de Montaigne das Benehmen der Leute an einem solchen Feiertag, zudem mitten im Hochamt befremdlich: Sie standen selbst im Chor der Kirche herum und plauderten ungeniert drauflos, das Haupt bedeckt und dem Altar den Rücken zugewandt, und erst bei der Wandlung schien ihnen einzufallen, daß sie im Gottesdienst waren.”
Michel de Montaigne, Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland, 1580
[von Andrea Diener] Kirchen sind oft eine morbide Veranstaltung: Überall Knöchlein in Stein, in Marmor und in echt, Relikte vergangenen Lebens, Gräber, Gedenksteine und hier und da ein balsamierter Leichnam. In den Ecken finden sich aber, wenn man einmal genauer hinschaut, immer wieder Spuren von Leben, sogar höchst gegenwärtigem Leben, das einfach so und ohne zu fragen in die Kirche hineinwuchert.
In Kirchen gehen ja nicht nur Kleriker und Touristen, in Kirchen geht zuallererst einmal die Gemeinde, also das Fußvolk der Gläubigen. Und wenn der Glaube wirklich für die Menschen da ist, dann muß er ihnen auch zugestehen, sich ihn anzueignen und auf ihre Weise auszudrücken. Auch wenn das mitunter befremdlich anmutet, wenn das nicht in irgendeiner Dorfkirche stattfindet, sondern inmitten kunsthistorisch wertvoller Bausubstanz. Wenn nicht fachgerecht gemurmelt wird, sondern Nippes Einzug hält, der dem protestantisch geprägten Menschen geradezu abergläubisch anmutet. Aber wer definiert da schon die Grenze?
Dann wird man wieder daran erinnert, daß Kirchen eben Zweckbauten sind, und nicht nur dastehen, weil sie so dekorativ sind. So finden sich zu Füßen des Heiligen also diese Kinderfotos: Kinder zu Hause, vor gruseligen Wohnzimmerschränken, im Garten, Kinder mit albernen Mützen auf, mit Brillen und Kinder, die im Ikea-Kinderparadies herumturnen. Das erinnert mich immer an den Grabstein, denn ich einmal auf dem Zentralfriedhof in Wien gesehen habe, wo neben den Kommerzienräten und Realitätenbesitzern ein jüngerer Verstorbener mit seinem Handy abgebildet war. Wenn das Würdige und das Alltägliche zusammenstoßen, kann das für Überraschungen sorgen.
Es spricht wohl für die südlicheren Länder, daß man hier offenbar so gar keine Berührungsängste vor dem Heiligen hat. Man bezieht das in sein Leben ein, integriert es fröhlich und bittet es in sein Haus. Das Heilige wird nicht an wenigen Orten ghettoisiert, es ist überall, in den Häusern, auf den Straßen. An die Mauern werden die Verstorbenen plakatiert, daneben wird der Muttergottes gehuldigt: Kerzen, frische Blumen, Dankestäfelchen.
Die Muttergottes ist hier eine Instanz, an die man sich in allen möglichen Angelegenheiten wenden kann, daneben gibt es auch spezialisiertere Heilige. Und es gibt die personalisierten Hausaltäre: In Bayern der Hergottswinkel, fällt das der Religion gewidmete Eckchen in Italien oft etwas üppiger aus. Es blinkt und leuchtet, daß es nur so eine Freude ist. Und dann sitzen Leute davor und beten. Allein das beten ist ein für mich völlig unverständlicher Vorgang. Was machen die Leute da, was sagen sie da? Glauben sie wirklich, daß es hilft? Zumindest schadet es nicht.
Und das Religiöse verleiht einen Rahmen, etwa bei Feiern, die nach jahrhundertealten Zeremonien ablaufen, aber immer wieder variiert werden. Man weiß genau, was als nächstes kommt, aber die Menschen füllen das mit Leben. Hier nämlich findet Glaube statt, nicht im Vatikan, der das organisiert und verwaltet. Der ist zwar gleich um die Ecke, aber gleichzeitig sehr weit weg. Hier wird geglaubt, hier wird das lebendig gehalten, weil es zum Leben dazugehört und auch dazu, italienisch zu sein.