Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die Reisekarte für die Bundestagswahl

Nachdem offensichtlich wieder alle Politiker und Wähler zurück zu den Zeiten des Wirtschaftswunders wollen, an den Bauch des dicken Erhard und in die Wärme der sozialen Marktwirtschaft, stellt sich eine simple Frage: Haben Sie eine Karte dorthin? Nein? Sehen Sie. Ich jedoch habe eine Karte, und ich denke, man sollte auf jeden Fall einen Blick dort hineinwerfen.

Trotz aller Freude an unseren neuen Eindrücken werden wir auf Reisen das Vertraute, das wie ein Gruss der Heimat anmutet, dankbar vermerken.
Werbetext auf Gebietskarte Nr. 5 Süddeutschland, 1952

Man kann in ein Automobil des Jahres 1955 schlecht ein Navigationsgerät mitnehmen. Selbst auf grosser Fahrt ist es ein Stilbruch, und zudem fehlt es meinem Sunbeam Supreme 90 Mk. III an einem Zigarettenanzünder. Damals hatte man für Rauchzwecke noch Goldfeuerzeuge und Zigarren. Wohl oder übel also werde ich in der kommenden Woche auf Karten zurückgreifen, wenn ich versuche, mit weniger Kosten als die Teilnahmegebühr der Mille Miglia inclusive Wagen, Überführung, TÜV und Hotel Rom zu erreichen und an einem Stück im gleichen Wagen ohne Abschleppen an den Tegernsee zurückzukehren. Ausserdem ist mein Budget stark limitiert, mehr als 5750 Euro darf ich nicht verbrauchen, und der neumodische technische Krempel ist viel teurer als eine kleine Suche in den familiären Autounterlagen.

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Motorfreunde seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts und der unzulässigen Geschwindigkeit stets zugetan, Liebhaber des Benzinparfüms und bereits 1928 mit zusammengebrochenem Auto am Brenner liegen geblieben, blicken wir zurück auf eine lange Tradition der von der Strasse abgekommenen Fahrzeuge, an denen stets das nasse Laub schuld war, auf geöffnete Regenschirme unter dem geschlossenen, aber undichten Cabriodach, auf eine Vielzahl unzuverlässiger und zu teurer Blechkisten und eine Todfeindschaft mit TÜV-Schergen und Räuberpolizei. Unvergessen meine Grossmutter, die Aufschreiber bewog, meine Strafzettel wegen Falschparken zurückzunehmen, indem sie betonte, dass ihr Enkel sie besucht hatte. Und so, wie sich unter den Autos der Rost ansammelte, sammelten sich auch all die Reisekarten der Familie an, die Männer natürlich nie brauchten und die Frauen mitnahmen, um den Männern dreinzureden mit falschen Informationen, die sie den Karten entnommen haben wollten. Nach den grossen Krächen wanderten die Karten weitgehend unbenutzt in einen Ordner, in dem ich sie nun fand.

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Darunter auch ein Prunkstück aus der zweiten Hälfte der 50er Jahre, “Bayern in Bild und Karte, überreicht durch die Stadt- und Kreissparkasse Ingolstadt”. Die gute alte Zeit: Darauf ist man noch gegen den Einfall des Niederländers und des Hessen noch durch das Fehlen der A3 zwischen Frankfurt und Würzburg geschützt, und auch der zurückgebliebene Österreicher hat noch keine Autobahn im Inntal. Der wahre Schatz allerdings findet sich rückseitig, denn unter “Das Reiseland Bayern” sind all die Sehenswürdigkeiten des Landes ohne Strassen verzeichnet. Man sieht das Land, wie man es sich unter Erhard und Adenauer erträumte, es ist das Bayern des Wirtschaftswunders und der sozialen Marktwirtschaft, es ist das Land, von dem heute im maroden Berlin und in den Stahlbetonbauten Politiker und ihre Hofschranzen aus PR und Wirtschaft schwärmen, und dessen Wiederkehr in unserer von Globalisierung, Krise und Arbeitslosigkeit getroffenen Zeit sie alle versprechen: Damals jedoch machten das nicht die kurzen Lügen und andere Beine von Angela, Frank-Walter, Horst, Oskar und Guido, nein, das machten damals nur die Beine von Dolores.

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Denn es war ein schönes Land. Ein sattes Land. Ein Land, in dem man nach all der Not des Krieges wieder hemmungslos essen konnte, ohne fett zu werden. Dürr und hungrig war man schliesslich lange genug, und Frauen sollten damals Fleisch auf den Rippen haben. Dünne Heringe waren keine stattlichen Männer, der Wanst war ein Zeichen des Vermögens, und nicht nur der Masslosigkeit. Es lag bei Nürnberg nicht eine Wurst “an Kraut”, es lag ein halbes Dutzend Würste in einem Meer von Sauerkraut, daneben ein fetter Karpfen und danach noch Lebkuchen, genug Kalorien, um einen Wagen bis nach Amberg zu schieben, wo schon der Rindskopf und das Kesselfleisch warten, es gab kein “Süppchen”, nur Suppe mit vielen Fettaugen, es gab Likör und kein Wasser, und dazu singt Peter Alexander den Badewannentango und “Am besten hat’s ein Fixang’stellter”.

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Man mag da lachen, aber wenn ich mir nur die Region anschaue, aus der heraus es mein Clan seit über 200 Jahren nicht geschafft hat, dann fällt mir all das Gute jener Tage wieder ein: Das wirklich idyllische Altmühltal mit seinen Tortenbergen, fast so hoch wie Kreidefelsen, der Biergarten von Kloster Weltenburg, wo man nach der Kirche die Massen stemmte, die Walhalla gegenüber und Beilngries, wo ich heute noch Gäste mit hinnehme, wenn ich sie kulinarisch verwöhnen möchte. Natürlich ist die Karte naiv, entsetzlich naiv und obendrein beschönigend, aber sie ist immer noch so, wie die Erinnerung schon immer war: Prall, saftig, kerngesund und lebensfroh. Absolut nicht modern und fortschrittlich und vollkommen frei von all den Zumutungen der Moderne. Eine Welt der Vollbeschäftigung, in der es aufwärts ging, und in der man sich keine jener heutigen Schlagzeilen vorstellen konnte, in denen Familie Schäffler die Firma Continental in den Abgrund spekuliert, oder der amerikanische Hausbauer überschuldet die Schweizer Bank an den Kollaps bringt. Die Welt dieser Karte ist einfach, überschaubar und lebenswert. Mag rechts oben auch der Russe stehen und in der Uckermark die Bundeskanzlerin geboren werden: Das Leben ist noch schön. Besonders unten am Tegernsee, wo Erhard wohnt.

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Und da will man wieder hin. Natürlich übersieht mal all die alten Nazis und die Trümmer des Weltkriegs, das Autoritäre der Adenauerjahre und die Plackerei jener Tage, der mühsame Kampf und Arbeitnehmerrechte und das elende Spiessertum, die Prügelstrafe in der Schule und die geistige Enge, den Mief und all die Dummheit. Man denkt nicht daran, dass es damals nur wenige gab, die mit dem Auto fuhren, und viele, die im Staub auf Rädern zurückblieben. Das Volk möchte dennoch in diese Welt der vollen Tische und dicken Männer, es will im neuen Fremden wieder das Vertraute finden, die Annehmlichkeiten der Zeit vor der Wirtschaftskrise und die simplen Weltbilder der 50er Jahre, es will was sein, was haben, und wenn dann mit der CSU der letzte Rest des 50er-Jahre-Miefs versucht, das Land zu sehr der Moderne anzupassen, mit achtstufigem Gymnasium und Genfrass, dann wird sie eben vom Volk durchgehauen. Im Rheinland heult man den Bergwerken und Schlotbaronen nach, wie es sie nur in Gelsenkirchen gab, in Frankfurt soll man wieder Opel fahren, im Osten wählen sie die PDS und in Wien die Nachfolger der Austrofaschisten, in Berlin nennt man sich, wenn man nicht arbeiten will, Boheme, an der Küste verlangt man Zuschüsse für Werften, aber keinen globalen Warenverkehr, man möchte alles und dafür nichts geben. Man möchte auch das Berliner Stadtschloss wieder haben und in Heiligendamm Investments tätigen, man will den Mythos mit all der Annehmlichkeit der Gegenwart. Man will das 21. Jahrhundert und die 50er im gleichen Moment, und wer die Verschmelzung jener Epochen glaubwürdig erlügen kann, wer sich als neuer Erhard präsentiert, wer diese Karte in den Köpfen der Menschen lebendig werden lässt, wird kommende Wahlen gewinnen.

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Vielleicht spielen sie ja Peter Alexander mit “Hab`n sie nicht ein schönes grosses Fass da?” in meinem Ecko Röhrenradio, wenn ich nächste Woche hoffentlich mit meinem Sunbeam Supreme 90 Mk. III nach Italien fahre.