Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Mille Miglia I – Brescia

Ja. Zugegeben. Es stinkt, es ist laut, und am Abend hat man vom Kohlenmonoxid Kopfschmerzen. Es geht um Geschwindigkeit in ihrer unsichersten Form, und wenn man liegen bleibt oder einen Unfall hat, ist es weniger schön. Und wenn man es bleiben lässt und alles richtig macht und nur an die Sicherheit denkt, krepiert man wie Opel. Warnende Beispiele, wie das mit dem Autofahren wirklich geht, bringt die Mille Miglia in Brescia.

Ein aufheulendes Rennauto ist schöner als die Nike von Samothrake
Marinetti

Wer verstehen will, warum es der Autoindustrie global so schlecht geht, sollte im Mai Brescia besuchen.

Bild zu: Mille Miglia I - Brescia

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Dort beginnt die Neuauflage der Mille Miglia als Veteranenrennen, mit knapp 400 historischen Automobilen, eine brutale Schinderei für Mensch und Maschine. 1600 Kilometer nach Rom und zurück. Ein Viertel der – manchmal reichlich teuren – Fahrzeuge bleibt auf der Strecke, und wer je so ein altes Gefährt bewegt hat, weiss um die mangelnde Modernität der Bedienung.

Bild zu: Mille Miglia I - Brescia

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ESP, Airbag, Sicherheitsgurte, Servolenkung, ABS, das alles fehlt. Es sind mechanische Autos und keine motorisierten Computer, und der technische Fortschritt seit dem Ende der originalen Mille Miglia, die 1957 wegen eines entsetzlichen Unfalls verboten wurde, ist enorm. Auf Biedermeierstühlen kann man noch sitzen, mit georgianischen Silberkannen bietet man problemlos Tee an. Über 50 Jahre alte Autos dagegen sind sture und brandgefährliche Böcke. Trotzdem ist Brescia voll von Menschen.

Bild zu: Mille Miglia I - Brescia

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Weil das Automobil noch schön ist. “Das waren noch Autos”, sagt ein jeder, und meint: Das sind noch Götzen. Das sind noch Kultgegenstände. Damit konnte man sich noch stilvoll zeigen, oder wenn es sein musste, umbringen. “Das ist der Wagen, in dem James Dean…” Das waren noch Transportmittel für Freiheit und Abenteuer, das war die individuelle Überwindung des alles begrenzenden Raumes, die Mittel der Unabhängigkeit von Eisenbahnen und Schiffen. Des deutschen liebstes Kind ohnehin, aber auch: Geliebte. Rausch. Schicksal.

Bild zu: Mille Miglia I - Brescia

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Das alles kann man schwerlich über unseren Begriff des Automobils sagen, all jener notleidenden Opels, die mit Abwrackprämien erstanden werden und dennoch unrettbar sind, das trifft auch nicht auf Mercedes zu, die bei Scheichs anklopfen, auf dass die jene Maschinen retten, die zum Verbrennen ihres Öles und des Geldes der Kunden notwendig sind. Der Mangel an Emotion trifft auf Porsche zu, jenen schlecht laufenden Hedge Fonds mit Automobilsparte, und auf all die silbernen, schwarzen, nichtsfarbenen Kisten aus dem Windkanal, denen keine Werbekampagne der Welt das – zugegebenermassen dumme – Urbedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit einreden kann, diesen Krücken und Rollstühlen der modernen Massenfortbewegung von A nach B mit Kilometerpauschale und Benzinrechnung.

Bild zu: Mille Miglia I - Brescia

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So verkauft man ein Industrieprodukt, das irgendwo auf der Welt entsteht. Sicher, nicht so gut emotionslos wie in Deutschland, amerikanische Autos sind Schrott ab Werk, den Preisvorteil der Chinesen verdankt man einer Diktatur, in Frankreich subventioniert der Staat auf Teufelkommraus, und das Rennen der Firmen zu noch mehr Effektivität in Produktion und Vertrieb ist angesichts der auf dem Spiel stehenden Schlüsselindustrie nicht weniger riskant als die echte Mille Miglia. Deutschlands Schicksal soll angeblich davon abhängen, von diesen hässlichen Blechschüsseln für alle.

Bild zu: Mille Miglia I - Brescia

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Auf dem Weg dorthin ging einiges verloren. Sicher auch klangvolle Namen, denn Siata, MG und Cisitalia legten eindrucksvolle Pleiten und Skandale hin, Jaguar gehört den Indern und Bugatti Volkswagen. Es wurde alles besser und schneller, jeder kann und jeder darf, aber es scheint, als brauche der Mensch mehr als nur Perfektion, und die Emotion (sprich Imoschn) des Werbetrailers ist nichts gegen die Gefühle, die einen überkommen, wenn die schmalen Reifen an die Belastungsgrenze kommen, der Kühler überkocht oder die Massen jubeln, wenn der Rennwagen in einer Wolke aus Gestank und einem Universum des Gescheppers die Rampe in Brescia verlässt, um auf den kommenden 1600 Kilometern das Schicksal zu treffen.

Versuchen Sie das mal in einem Opel Astra.