Der Ursprung aller Waren ist dunkel. Das ist das Gesetz des Kapitalismus.
Roberto Saviano, Gomorrha
Gewisse Traditionen haben zwar definitiv nicht überlebt, aber trotzdem kommen sie wieder. Wie etwa massgefertigte Schuhe. Ich gebe frei zu, dass ich Spezialanfertigungen lange abhold war. Von der Natur mit zwei sehr ungleichen Füssen gesegnet, die mich mit Gloster in Shakespeares Henry VI. sprechen lassen können “Then, since the heavens have shaped my body so, let the hell make crooked my mind to answer it”, hatte ich als Kind das Privileg, echte Leisten bei einem Schuster zu haben. Ein Schuster, der hässliche, aber medizinisch korrekte Klötze fertigte, während alle anderen Kinder das Vergnügen hatten, ihre Füsse und manchmal auch, wenn die Eltern nicht aufpassten, die Köpfe unter ein grünliche Bilder erzeugendes Röntgengerät zu halten, das damals bei einem Schuhgeschäft der Innenstadt zu finden war: “let the X-rays make crooked…”
Aber auch Massanfertigungen sind nicht zwingend angenehm. Sie drückten. Meine Grossmutter meinte, das wäre ganz normal, früher habe man Schuhe erst mal blutig laufen müssen, bis sie passten. Früher waren andere froh, überhaupt Schuhe zu haben. Früher, in der guten, alten Zeit der Leisten und echten Schuster, ging es nicht im Mindesten so fein und edel zu, wie uns die Legende der unzerstörbaren und perfekt sitzenden Lederkunst erzählen will. Der Schuster, bei dem ich war, fluchte, trank und vergass auch manchmal eine Naht, an der man sich dann blutig riss. Eine gute Tradition, wenn man so will, gibt es allein bei jenem Schuster in der Stadt, dessen Familie seit Urzeiten alles Leder der Familie repariert. Aber irgendwann war ich doch in der Lage, wie jeder andere Schuhe im Geschäft zu kaufen. Zur Hölle mit der Tradition.
Dafür entstand eine neue Tradition: Der Schuhkauf in Italien. Wir kauften immer in Italien Schuhe. Nicht nur ein Paar, sondern gleich richtig. Die Marken waren besser als daheim, nur billiger, schöner, in grösserer Auswahl. In Italien gab es noch Budapester, als sie in Deutschland vollkommen vergessen waren, es gab Damenschuhe, die nicht nuttig aussahen und gute, stilsichere Beratung. Das Deutschland der 70er und frühen 80er Jahre hatte da klare Defizite. Es dauerte lang, bis sich in Deutschland wieder bessere Marken durchsetzten, und die letzten Reste der Schuhmanufakturen zu neuem Glanz aufstiegen. Zu Preisen jedoch, die sich bei meinen immer noch nicht geraden Füssen, die Schuhe schnell und an sehr unterschiedlichen Orten durchtreten, nicht wirklich lohnen. Bekehrungsversuche an dieser Stelle sind überflüssig, ich habe es probiert: Es lohnt sich nicht.
Zudem verbinde ich das Thema Massfertigung mit einem wahrlich unerfreulichen Charakter, der um die Zeit des Niedergangs des Ostblocks versuchte, Zugang zu unseren Kreisen zu erhalten: Ein BWL-Student aus München, der dort in einem Verbindungshaus wohnte, liess Schuhe in Ungarn fertigen, und brüstete sich damit, sie seien billiger als Schuhe aus deutschen Geschäften. So lange, bis die Schuster in Ungarn die Preise erhöhten, was eine Lieferung verteuerte und ihn zu einer öffentlichen Klage ermutigte, die mich und andere, vorsichtig gesagt, befremdete. Man könnte auch sagen: Auch Nichtschuster sollten bei dem bleiben, was sie sich leisten können.
Nach diesen einschränkenden Ausführungen jedoch, nach diesem Weg, den meine Schuhleichen der ersten Häuser wie auch banaler Serienhersteller pflastern, nach erbrachtem Nachweis, dass ich kein Fetischist bin, der hirnlos jede Marketingerfindung alter Schuhmacherkunst glaubt – muss ich zugeben, dass ich jetzt doch wieder bei einem Schuster bin. Es ist nämlich auch in Italien, jenem Refugium des guten Lederprodukts, nicht mehr so einfach, Gutes und Verlässliches zu finden: Die dortige Qualität zu günstigen Preisen verdankt man nur zu oft mafiösen Geschäften in Süditalien, Produktfälschertum und dem Aufdruck “made in Italy”, der in China nicht schwer zu imitieren ist. Schuhe riechen auch nicht mehr so wie früher; ein Ergebnis der chemischen Lederbehandlung. Manchmal stinken sie auch, dann darf man rätseln, welchen Industriemüll man in die Gummisohle der Mokassins gekippt hat. Aber während ich absolut kein Problem habe, mit Gepäck zu verreisen, das schon Brandlöcher vom Auspuff vorsintflutlicher Adler-Automobile hat, bin ich nicht bereit, gebrauchte Schuhe zu kaufen, um die Zumutungen der Moderne und ihrer globalisierten Warenströme zu umgehen. Zumal vor 1945 Schuhgrösse 45 eher selten anzutreffen war.
Wie auch immer, das Grübeln hat ein Ende, denn als ich in Verona den Giardino Giusti verliess, um über die Via Giosué Carducci zu gelangen, kam ich auf der linken Seite an einem Geschäft vorbei, das jenen typischen Geruch verströmte, wie ihn nur natürlich gegerbtes Leder verbreitet. Ein winziges Geschäft, gleichzeitig Laden und Werkstatt, in der gearbeitet wird. Und nicht verkauft. Es ist hier nämlich so: Es gibt Schuhe. Ausnehmend schöne Schuhe. Man kann sie betrachten, anfassen, die Machart der Nähte bewundern und sich erklären lassen, wie sie gemacht werden: Vom Bruder der Besitzerin, aus einem speziellen Leder, dessen produzierende Vereinigung ausnahmsweise mal weder die Camorra, chinesische Fälscherbanden, die Loge P2, die Faschisten oder von Berlusconi zusammengekaufte TV-Sternchen und Hinterzimmeradvokaten oder gar alles zusammen ist. Man wird ein wenig vorsichtig, wenn man sich eine Weile mit dem Gedanken getragen hat, den Wohnsitz nach Italien zu verlegen. Ich habe dabei in den letzten paar Jahren zu viel erlebt. Dass ich letztlich doch an den Tegernsee gezogen bin, obwohl die CSU dort um die Ecke ihr Hauptquartier hat, sagt vieles.
Signora jedenfalls hat nichts zu verkaufen. Die Schuhe sind nur hier, um probiert zu werden. Es gibt sie in vielen Grössen und Farben, um das Sortiment vorzustellen und zu probieren: Wo sitzt es, wo muss verbreitert werden, welche Gummierung soll auf die Sohle, welche Farben passen zu welchem Kleid, welche Nähte möchte man haben, wo soll das Leder umgeschlagen werden, wie breit soll die Sohle sein. Die Modelle sind absolut nicht modern, sondern zeitlos. Es gibt die Klassiker, Budapester, Halfbrogues, Stiefel und ähnliche Formen, und sonst nichts. Keine hochhackigen Schuhe, keine Modekappen, kein Glanzleder, wie es den hässlichen kleinen Männern gefällt, bei denen man nie weiss, ob sie Zuhälter oder nur Parlamentarier der Lega Nord sind. Das Leder ist dick, genarbt und vermutlich auch bergschuhtauglich. Etwas anderes gibt es nicht. Zwischendrin kommt ein Ehepaar vorbei, dessen Frau in Louis Vuiton einen Gürtel für ihren durchgelacosteten Mann braucht, heraussucht und anpassen lässt. In dieser Region, vielleicht etwas darüber, würde ich den Laden und seine Produkte auch verorten. Weil die Besitzerin nicht das Zeug anderer Leute verkauft, sondern nur das, was sie wie ihre Taschen anfertigt und wie die Gürtel sofort anpassen kann. Alles andere – wie Schuhe – muss bestellt und am besten vorher bezahlt werden. 40 Tage Minimum, bis die Schuhe kommen. Die sind dann aber exakt so, wie man sie haben will. Jedes Detail macht extra Arbeit und kostet extra. Idealerweise kommt man aber vorbei und holt sie ab. Kein Problem, wenn man am Tegernsee wohnt, da schafft man es zum Mittagessen nach Valeggio, und danach zu jenem Laden. Frankfurter müssen sich auf die Post verlassen.
Frankfurter können nicht sagen “Ich muss schnell mal nach Verona, meine Schuhe sind fertig, und ausserdem, Liebling, soll ich die nächsten in Braun und Weiss oder lieber in Braun und Beige nehmen? Oder hast Du Zeit, mich zu begleiten? Wir könnten danach San Zeno besichtigen, oder uns einfach nur Zeit lassen und auf der Landstrasse erst nach Innsbruck zu Dahler, dann nach Meran unter die Lauben, die Gardesana hinunter…” Irgendeinen Vorteil muss es ja haben, unter Bayern zu leben – neben der Fähigkeit, charmant aufzutreten. Denn es war all mein Charme vonnöten, die strikte Regel der Unverkäuflichkeit der Schuhe zu umgehen; ich jammerte nach dem Probieren, dass sie perfekt sitzen, was bei meinen schlimmen Füssen so gut wie nie vorkommt, ich beschwor sie, ihren Bruder anzurufen und zu fragen, ob es nicht doch, ausnahmsweise, vielleicht, und nach langem Bemühen kaufte ich sie gleich so. Ohne Schuhkarton, ohne all den Chichi, den Nobelmarken mit einpacken, in einer braunen Papiertüte, zu einem Preis, der recht hoch ist, wenn man sich die Sensationspreise des chinesischen Ramsches vergegenwärtigt, aber angemessen, wenn man die bekannten Adressen in München und Wien zum Vergleich nimmt. Sie sind ein hervorragender Grund, alle 40 Tage nach Verona zu fahren. Wenn die alten Traditionen schlecht sind, mache ich mir eben eine neue, gute Tradition.
Und fragen Sie mich nicht an der exakten Adresse. Ich habe keine Lust, in Zukunft wegen einer deutschen Invasion 80 Tage auf meine Schuhe warten zu müssen.