Poliziano: Niemand darf von Erfolg reden, wo nur der Pöbel gewonnen wird, indem man seinen armseligen Trieben schmeichelt.
Thomas Mann, Fiorenza
1991 erschien “Paris Country. A Style and Source Book of the Ile-de-France”; ein opulenter Band über die Inneneinrichtung, die man zu jener Zeit in der Region um Paris pflegte – und die bis heute in besseren Kreisen stilbildend ist. Das Buch erschien gerade im richtigen Moment. Nachdem ich als guter Sohn meine Wohnung in München zum Wochenende oft verliess, um daheim den Verpflichtungen nachzukommen, wünschte ich mir auch dort eine eigene Wohung. Zu jener Zeit wurde ein Teil der Dächer des alten Stadthauses neu gedeckt, und bei der Gelegenheit eine schon länger leer stehende Wohnung unter dem Dach umgebaut.
Nun hatten meine Eltern nie ein richtiges Verständnis für jene Immobilie mit ihren 54 + x Räumen (fragen Sie mich nicht, erst vor zwei Jahren fand ich noch einen Raum, von dessen Existenz ich nichts ahnte), und so fragten sie sich mäkelnd, ob dieses Dachkammerl wirklich vermietbar wäre, oder ob man es nicht einfach leer stehen lassen sollte, weil der Aufwand angesichts der schrägen Wände, des verlotterten Zustandes und all der aus der Dachkonstruktion hineinragenden Balken des Jahres 1600 unangemessen wäre. Kaum hatten sie diesen Zweifel auch nur laut angedacht, hatte ich die ersten Möbel hineingestellt und meine kurze Karriere als Hausbesetzer erfolgreich gekrönt.
Das Buch sollte meine Leitschnur werden, in jenen Semesterferien des Jahres 1993. Tagelang befreite ich Balken von Farbe und Mörtel und verputzte Löcher in den Wänden; ich fand die Überbleibsel des tolldreisten Lebens, das hier oben einst Schauspieler führten, und mit Buch und stilsicherer Grosstante bewaffnet, ging ich Antikmärkte, Wohnungsauflöser und Sperrmüll plündern. Das waren noch die goldenen Zeiten, als man Biedermeiersessel für 20 Mark finden konnte, und was letztlich noch fehlte, der Küchentisch etwa, eine Kommode oder ein zierlicher Biedermeierstuhl, schenkte mir meine Grosstante aus ihrem über Dekaden zusammengetragenen Fundus. Am Ende waren wir uns einig: Hier oben sah es so aus, wie in diesem Buch.
Alles war da, Kronleuchter und Vorhänge vor dem Bett, Dielen und Bücherwände mit ein paar tausend Bänden, die sich über Schlafstatt und Schreibtisch erhoben, Stuck und ein alter Ofen, venezianische Spiegel und Goldrandgeschirr, eine kleine Auswahl an hier im Haus gefundenen Langwaffen vergangener Epochen, was man eben so braucht und was sich über die Zeit ansammelt – und kein Fernseher. Wie in “Paris Country”. Keine Glotze, nirgends.
Ich habe keinen Fernseher. Ich habe mit dieser Kiste Ende der Pubertät abgeschlossen, und ohnehin waren Bücher schon immer mein eigentliches Begehr. Als ich zum Studium meine Heimat verliess, nahm ich die Bücher mit, kaufte aber keine Glotze. Ich habe also nichts mitbekommen vom Aufstieg der Privaten und vom Niedergang der Öffentlich-Rechtlichen, es ist mir vollkommen egal, es existiert nicht. Nichts gegen Radio, da gab es früher gute Formate, und natürlich las ich auch Zeitschriften, warum auch nicht. Fernsehen war in meiner Familie stets reichlich verpönt, einen Videorekorder hat niemand je besessen. Das war in besseren Häusern nicht unüblich. In “Paris Country” jedoch war die Glotze ausgerottet. 300 opulente Seiten ohne diesen Dreck. Ab und zu Staub, oft auch Risse in den Mauern und sehr viel Patina. Aber nichts, kein Kämmerchen, keine Wand, kein Tischchen, wo sich diese scheusslichen Kästen mit ihren noch scheusslicheren Inhalten, prolligen Machern und anbiedernden Protagonisten, “Blut und Dreck in Wahlverwandtschaft”, um Bert Brecht zu bemühen, gefunden hätten.
Wenn Sie bessere Einrichtungszeitschriften lesen – also nicht das Fachblatt für den Neugeschmacksstalinismus der Berliner Kleptokratie mit dem Namen “AD” oder “Elle Decoration”, die neumittelreichen PR-Frauen zeigt, wie man sich zum Gespött macht – wenn Sie sich also die World of Interiors halten, oder für den mediterranen Raum die französische Zeitschrift Byzance, dann kennen Sie das: Auch hier zeigt niemand einen Raum, in dem eine Glotze wäre. Um die Welt dieser Zeitschriften, die sich klar an eine gesellschaftliche Elite wenden, gibt es offensichtlich einen Cordon Sanitaire, in dem dieses Medium, “das nur für diejenigen relevant ist, die nicht relevant sind”, um es mal mit einem guten Freund zu sagen, ausgegrenzt wird.
Ich weiss natürlich nicht, ob es nicht doch in all den Palästen, Bürgerhäusern und Bauernhöfen einen Raum gibt, an dem das Zeug rumsteht. Ich sehe durchaus Bilder, auf denen sich Klapprechner finden; das scheint akzeptabel und vorzeigbar zu sein, damit macht man sich also nicht zum Idioten oder mit dem Pöbel gemein. Ein Rechner ist vielleicht nicht ganz so respektiert wie die Zeitung und bei weitem nicht so präsentabel wie die Bibliothek, aber seine Anwesenheit ist geduldet. Man braucht das heutzutage, man arbeitet und ist durchaus zwischen barocken Stühlen und Designklassikern auch von dieser Welt. Es gibt im Übrigen neben diversen Instrumenten auch hochwertige Tonmöbel zu sehen; natürlich sind die Zeiten vorbei, da man sich zum Essen ein Orchester in den Saal holte. Allein die Glotze ist der Paria, der stinkende Fortsatz einer Populärkultur, mit der man – zumindest sichtbar – nichts zu tun haben will.
Es gibt also eine Übereinkunft, dieses Thema auszuschliessen. Ich kenne offen gesagt auch niemanden, der in einer Konversation die Welt der Geschmacklosigkeit zum zentralen Thema machen würde. Bei uns sagt niemand “Hast Du gesehen wie im Programm XY der AB…” All der Müll aus Politik und Promitum, der leider tags darauf als “Fernsehkritik” mit nacherzählten Wortbrocken seinen Weg ins Netz findet, all diese dummen Sager von Menschen ohne Manieren – man würde sich seltsam fühlen, anderen dieses Zeug als Thema aufzudrängen. Es gibt genug andere Themen. Man möchte sich das Leben nicht vorgeben lassen. Man kann über das Wetter reden, oder über feine Delikatessen aus Schwaz. Ich glaube, diese Dominanz dieser scheusslichen Kiste ist eine reine Erfindung aus der Echokammer der Medien.
Sie wird aber zum realen Problem, wenn sich dieser Dreck anschickt, zum akzeptierten Bestandteil der Gesellschaft zu werden. Wenn der Müll es tatsächlich schafft, relevant zu sein. Ich empfinde das angesichts der Breitenwirkung kaum weniger erfreulich als einen Aufmarsch von politischen Extremisten, denen es auch darum geht, ihre kaputte und kranke Sicht der Welt anderen aufzudrängen. Meine Welt ist dadurch natürlich nicht in Gefahr, aber es wäre wirklich nett, wenn man den Rest nicht den Sidos, Bachs, Kesslers und wie sie alle heissen, überlassen würde. Bislang erscheint es ja immer noch so, als sei das Produzieren, Mitmachen und Betrachten solcher Dinge gesellschaftlich tolerabel. Man sollte sie ruhig öfters wissen lassen, dass hier kein Starruhm, sondern Gosse gemacht wird. Man sollte sie ausgrenzen, wie die Pest in “Paris Country” wegdiskriminiert wurde. Das trifft sie vielleicht in ihrer Eitelkeit. Da, wo es solchen Leuten vermutlich noch weh tut.