Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die Vergeblichkeit musikalischer Zwangsmassnahmen

So wünscht man sich die Kinder: Gebildet, musikalisch und eine Freude für alle Tanten, wenn sie zu Weihnachtend das Repertoire populärgeistlicher Werke auf Geige oder Klavier vortragen, bevor es zum Braten geht, wo sie dann von schulischen Erfolgen erzählen. Die Realität jedoch ist jämmerlich; jämmerlicher gar als meine einstigen Blockflötenversuche - begleiten Sie mich in die Abgründe und Vorhöllen der gescheiterten Musikzurichtung meiner Kreise, die Ihnen vermutlich nur zu gut bekannt sein dürften.

Non cuivis homini contingit adire Corinthum
Horaz. Episteln

Von allen Qualitätsillusionen der besseren Gesellschaft hat keine einen derartig negativen – verzeihen Sie, liebe Leser, ich mach noch schnell das fenster zu – von allen Qualitätsillusionen des gehobenen Bürgertums hat keine einen dermassen – Herrgottsakra, Moment, ich muss noch das andere Fenster schliessen – von allen Quäli – jetzt reicht es aber, pardon, ich muss Sie und den Rechner mitnehmen in die Bibliothek, da haben wir unsere Ruhe, also, richtig, von allen Einbildungen der Schicht, aus der zu stammen ich das Vergnügen habe, gibt es keine Qualitätsillusion mit einer derartig negativen Erfolgsquote wie die Vorstellung, die Kinder könnten musikalisch sein, ein Instrument lernen und mit ihren Künsten später Hausmusikabende, Schulkonzerte oder gar die Matinee in der Maria de Victoria Kirche bereichern. Es ist Unsinn von der ersten Minute an – jene Minute, die gerade nebenan in einem musischen Gymnasium, früher höhere Töchterschule mehrfach aufgeführt wird, und zwar auf dem übelsten aller Folterinstrumente: Der Blockflöte.

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Die Blockflöte ist die Kalaschnikow unter den Musikinstrumenten: Enorme Durchdringkraft, unverkennbares Geräusch, unverwüstlich, billig in jedem Kaff Bayerisch Afghanistans zu beziehen, und richtet auch in Kinderhänden schon maximalen Schaden an. Fragen Sie den Händler, der mir meine CDs verkauft: Auch er ist gegenüber jenem Mutterschiff des Gepiepses, und versucht mir seit jeher Flötenkonzerte anzudrehen. Vergeblich. Ich hasse Flöte. Dazu müsste sie nicht mal jene Abba-Lieder von sich geben, die man den Schülerinnen mit allen Dissonanzen, die so eine 11-jährige bessere Tochter hervorzubringen in der Lage ist, teuflischerweise als Übungsmaterial überlassen hat.

Und bitte: Ich weiss, wovon ich rede. Auch ich wurde als Kind nicht nur in jedes Konzert zwischen Altmühl und Isar mitgenommen; auch ich wurde mit so einem Ding auf die unschuldige Menschheit losgelassen. Schon früh zeigte sich mein ausgeprägter Sinn für Disziplinlosigkeit und mein feines Gehör für die Rufe anderer Verlockungen; meine Improvisationskunst im Erfinden von Ausflüchten galt als einzigartig, und nie waren meine flinken Klavierspielerhände flinker als in jenem Moment, da es galt, dieses öde Ding zu zerlegen und dem Unterricht ohne jede Fortschritte zu entfleuchen. Ich sass still in Konzert und Oper, und ich liebte es, perfekt den Tisch zu decken – aber an der Blockflöte zeigte sich bald, dass ich den Kanon der bürgerlichen Gesellschaft nicht im vollen Umfang würde erfüllen können.

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Nun zeichnet sich die bessere Gesellschaft auch und vor allem dadurch aus, dass sie einfach darauf besteht, besser zu sein. Diejenigen Bereiche, in denen sie de facto nicht besser ist – denn auch das kann vorkommen, wenngleich es niemand zugeben würde – werden mit der ganzen Wucht der heranrauschenden Generationenmächtigkeit mittig gerammt, durchbrochen, und in den Boden gerieben. Kinder werden erst gar nicht gefragt, ob sie Arzt werden wollen, Hochzeitsüberlegungen werden früh angegangen, und wenn der Sohn faul, gelangweilt und eher den Büchern verfallen ist – findet sich immer eine Mutter einer Bekannten, die noch ein Klavier daheim hat, das sie nicht mehr braucht. Das wird dann mitsamt der Noten – Heil Dir im Siegeskranz! – geholt, und weil man nun schon so ein schönes Klavier hat, werden es die Kinder doch sicher mal probieren wollen.

Unter dem ersten privaten Klavierlehrer, der sich wirklich bemühte und auch sonst ein nette Persönlichkeit war, lernte ich halbwegs so, wie andere in diesem Alter lernen. Nach zwei Jahren jedoch zog der Lehrer von dannen, und so wurde ich, der ich nicht an einem musischen, sondern im traditionellen technischen Gymnasium meiner Familie war, in die Musikschule verbracht. Es war nicht elegant, es war nicht kunstsinnig, es war ein Loch mit Klavier und einem Lehrer, der irgendwann resignierte und meiner Mutter mitteilte, dass sie das Geld behalten könnte. So gestaltete sich mein Übergang von der Welt der Musik zur Welt der Surfbretter und Rennräder vergleichsweise harmonisch, und ich musste auch nicht mehr die Küchenuhr kaputt machen, mit deren heimlicher Verdrehung ich so manche Übungsstunde mehr als halbiert hatte, in der ich dann auch nur einhändig klimperte und anderhändig las. Andernorts ging es nicht so glimpflich ab.

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Mein Freund T. etwa stammte aus einer Industriellenfamilie, die in der böhmischen Heimat sehr viel verloren hatte, aber neben dem – auch heute noch – schönsten Bungalow der Stadt über teure Coupes, eine Tochter ohne berufliche Ambitionen, asiatische Küche und einen Steinway in der Halle ein paar gefühlten Dutzend Metern neben dem offenen Kamin verfügte. Auch dort machte man Kinderversuche an den Tasten, der Vater gab dem Sohne all sein Wissen mit, und als T. sich darin ebenso befähigt wie meine Wenigkeit gezeigt hatte, beschloss man, sich damit nicht länger zu ärgern, und es jenen zu überlassen, die schon immer im Ruf standen, das beste Schulorchester zu haben: Dem humanistischen Gymnasium der Stadt, einer Institution, deren zeitgemäss drohendes Aussterben damals von einer unzeitgemässen Verachtung für Niederungen jener Schulen geprägt war, die mehr als eine Klasse in jeder Jahrgangsstufe vorweisen konnte. Dort sollte T. die Geige spielen, und weil T. ansonsten hoch begabt und nie schlechter als ein Einserschüler war, sollte es auch die erste Geige sein.

Ich habe nie erfahren, was wirklich passiert ist. Man hat darüber nicht geredet; die Wahrheit kam bruchstückhaft ans Licht, T. hatte in der Sache absolutes Redeverbot, und nur über meine Mutter, die als die anerkannt beste Erzieherin des Viertels um Rat gefragt wurde, erfuhr ich pikante Details: T. hatte, als sich das Instrument seinen musikalischen Wünschen widersetzte, und das, obwohl es aus bester Mittenwalder Tradition stammte und sein Vater es dort hatte für ihn fertigen lassen, T. also hatte das Instrument in einem Akt rohester Gewalt und höchsten Jähzornes. Ich glaube, ich kann das in der F.A.Z. nicht schreiben. Jedenfalls war danach keine Leimnaht mehr ganz und auch kein Teil, das man noch hätte leimen können. Die schauerlichen Details solcher Katastrophen machen normalerweise in diesen Kreisen schnell die Runde, man weiss um die Grösse des Primärgenitals des Ehebrechers und was sie, diejenige welche davor getrunken hat – aber ich weiss nur, dass T. zwei Wochen Hausarrest und danach keinen Geigenunterricht mehr bekam.

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Falsch, sehr falsch wäre es, das als Folge der Pubertät sehen zu wollen. Es war uns einfach nicht gegeben. Musik, wirklich gute Musik vortragen zu können ist einfach eine Gnade, die nur wenigen zuteil wird. Ich habe eine grazile, feingliedrige Bekannte aus Grünwald, die in jeder Hinsicht an einem Flügel sitzen müsste, die in Haltung und Figur mit dem Instrument eine bewundernswerte Einheit bilden würde, die einen ganzen Schrank voller Abendkleider besitzt und jede Woche in die Oper geht – sie hasst Klavier, weil sie es lernen musste. In den Spielmannszügen der Dörfer, in den Hackbrettschulen der Käffer und bei der Blasmusik verschlafener Weiler mag das noch anders sein; mitunter finden sich auch Kinder weniger glücklicher Schichten, die den Drang haben, diese Fähigkeiten für sich zu erobern. Aber unter meinesgleichen macht keiner Musik. Im Zweifelsfall hat man aber Kinder, die man dazu mit sanfter Gewalt zwingt, wie es der Tradition entspricht.

Natürlich gibt es auch Ausnahmen. C. etwa, jene ältere der beiden N-Töchter, an denen ich lernen durfte, wie man einer Frau den Mantel abnimmt, einschenkt und die Türen aufhält, kurz, ein kleiner Kavalier zu sein. Dass ich mit C. und ihrer Schwester auch versuchte, in der Walpurgisnacht das Nachbarskind an den Kirschbaum zu binden und als Hexe anzuzünden, ist eine andere Geschichte. C. jedenfalls hatte die Stimme, die den Schulchor in seiner Mittelmässigkeit brilliant zerschnitt, ein süsser, schmerzensreicher Tod für die Hoffnungen aller anderen Eltern, ihre Töchter könnten zu Höherem bestimmt sein. Ein Ausnahmetalent. Sie musste nicht üben, sie konnte es instinktiv. Man war fassungslos, was in diesem schlanken Mädchenkörper steckte und mühelos Kirchenräume erfüllen konnte. Man wusste, dass sie dereinst den Ruf der kunstsinnigen kleinen, dummen Stadt in die Welt hinaustragen würde, dass sie mehr als nur zur Zerlina geboren war, sie sah aus wie die junge Callas, als hätte sich der Himmel erbarmt und der Stadt im Donausumpf mit ihren Tastenversagern eine Göttin geschenkt. Sie ging nach München, an die Musikhochschule, gelangte gar in den Opernchor, war denen aber nicht gut genug – was macht man als bessere Tochter, wenn man alle Begabungen hat, in der Vita aber nur ein mittelmässig erfolgloses Opernengagement zu finden ist?

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Kinder Küche Scheidungsanwalt. Man verstehe mich nicht falsch, ich kann mich nicht satt sehen an Virtuosen, an den Begnadeten und den Gottesgeschenken. Ich bewundere diese Menschen, die für ihre Musik leben, ich finde Menschen mit Instrumenten wahrhaft schön, und nehme dafür auch gern in Kauf, dass ich mit Abba von der Blockflöte malträtiert werde. Meine Verzückung muss einen wenig erfreulichen Anfang haben, und es könnte etwas Schlimmeres gegenüber sein – andere leben neben Müllverbrennungsanlagen, mit Sicht auf das AKW oder am Helmholtzplatz. Wir jedoch, wenn wir ehrlich wären und nicht die bessere Gesellschaft, müssten zugeben, dass die Zeiten der Musik in unseren Händen vorbei ist. Früher, als das Klavier ein Privileg der Reichen war, die genug Zeit dafür hatten. mag das anders gewesen sein. Heute ist es eine Tradition, an die man Jahre vergeblich glaubt, bis die Tochter mit ihren Freundinnen zur Stampfmusik nach Mallorca fliegt, und man schon froh sein kann, wenn sie sich weiter für das Konzertvereinsabo erwärmen kann. Wo sonst sollte man für sie einen Mann finden.

Begleitmusik: Ach so, ja, natürlich, die Frage, ob ich nicht auch Reue empfinde. Ob ich nicht doch gern das ein oder andere Instrument beherrschen würde. Nun, ich schätze die Viola da Gamba und die Laute, ich würde gern des Abends darauf simple Liebesweisen über den Dächern der Altstadt spielen, und manchmal gibt es Konzerte… und CDs… “le Tournai de Chavency” ist so ein Tonträger. Auf Basis eines Gedichts des hohen Mittelalters von Jacques Bretel wird das Treiben während eines Turniers erzählt, von Kampf, Gunstbeweisen und Lieben, Männer gegen Frauen, von den Freuden des Lebens. Track 8 ist ein Saltarello, banal und simpel, gespielt auf einer Maultrommel und einer eher krächzenden Fiedel. Sofort wünsche ich mir, ich könnte über die Hügel Ostfrankreichs wandern, und