Was wagt Ihr Euch hier herein? Hat Euch der Teufel geschickt?
René d’Anjou, Vom liebentbrannten Herzen
Vor ein paar Wochen war ich zu einem Streitgespräch eingeladen, von dem mir einige Erlebnisse in Erinnerung bleiben dürften. Da war etwa jener Herr, den ich nur aus dem Internet in einer Weise kannte, die man schwerlich als “angenehm” bezeichnen könnte. Dieser Herr nun stand am Eingang, neben ihm der Veranstalter, und der wiederum sagte, der Herr liesse fragen, ob ich es erlaube, wenn er Photos mache und veröffentliche. Das ist ohne jede Frage eine extreme Form der Unhöflichkeit; wer von einem etwas will, sollte sich vorstellen, oder noch besser, vorstellen lassen und seine Frage vortragen, und nicht feixend daneben zu stehen und zu warten, dass man ihm vor versammelter Mannschaft mitsamt seinem Anliegen eine Abfuhr erteilt. Nachher trank er übrigens Bier. Aus der Flasche.
Nun sollte man sich über Vertreter der Münchner Boulevardjournalisten ohnehin keine Illusionen machen; in der öffentlichen Meinung meiner Umgebung ändert auch diese Tätigkeit für die FAZ wenig an der generellen Anrüchigkeit des Berufsbildes, das meilenweit unter dem Arzt, dem Notar und dem Liegenschaftsverwalter angesiedelt ist. Schliesslich sind das keine Politiker, die auf die Nähe solcher Leute angewiesen wären, und allein der typische Gegenstand der Berichterstattung – Glotzenpromis, Reifenauschneider, Lokalpolitiker und Vertriebenentreffen – macht den Journalisten zu einem Grenzüberschreiter der Klassenschranken von unten, ähnlich der Putzfrau, aber nicht so ordentlich, oder dem Gärtner, aber nicht so wichtig. Kurz: Man möchte ihm kaum vorgestellt werden, so wie ich auch froh bin, mit solchen Leuten wie oben keine Bekanntschaft pflegen zu müssen.
Es ist im Übrigen noch gar nicht so lang her, da musste man sich nicht weiter um derartige Probleme des sozialen Umfeldes kümmern. Denn mit dem “nicht vorgestellt werden” erledigte sich die Zumutung ganz von alleine. Vorgestellt werden konnte man nur, wenn man jemanden kannte, der denjenigen kannte, dem man vorgestellt werden wollte. Der Mittler konnte sich dann als Anwalt der eigenen Interessen beweisen, vorfühlen, die Vorzüge des anderen preisen und dann fragen, ob man vorgestellt werden möchte. Diese Frage ist natürlich mit “Aber, mein Bester, liebend gerne” stets positiv zu bescheiden, und Nein sagen kann man immer noch, indem man gleich im Anschluss mit hohem Interesse das Tafelsilber lobt und zuerst wissen möchte, welchen Vorfahren es zu verdanken ist.
Auf diese Weise verliert niemand sein Gesicht. Derjenige, der vorgestellt werden möchte, wird vertröstet. Dem verhinderten Vorsteller wird zu verstehen gegeben, dass man jenen anderen als nicht angemessen betrachtet, ohne dass man deshalb seine Familie, seinen Stil und seine Ehre als makelhaft betrachten würde. Und man selbst entledigt sich einer unangenehmen Bekanntschaft, ohne Nein zu sagen und damit dem Vorsteller eine schlechte Menschenkenntnis zu unterstellen. Sagt man dagegen präventiv: “Ich möchte Soundso nicht vorgestellt werden”, lässt die Aussage breitesten Raum für Spekulationen, wie übel das gemeint sein könnte. Im Kern aber ist klar: Es muss sehr übel sein. Und es könnte gar sein, dass diskrete Nachfragen für den Zuhörer das ein oder andere Detail ans Licht bringen, warum man sich selbst besser auch nicht vorstellen lassen sollte.
Bis zu jenem Zeitpunkt jedoch gab es kein böses Wort, niemand wurde offensichtlich beleidigt oder ausgeschlossen. Einfacher wäre es natürlich, sich ein paar angemessen deutliche Dinge zu sagen und den Rest mit Bierflaschen auszutragen; das aber ist unter diesen Menschen absolut nicht opportun. Das Konzept ist im Übrigen hocheffektiv, wie seine Adaption in der süditalienischen Unternehmerschaft zeigt: “Der Freund eines Freundes” garantiert ehrenwerten Männern, dass niemand einen Staatsanwalt oder gar Feind von Berlusconi zu einem exklusiven Treffen mitbringt, auf dem man über Gebietsstreitigkeiten, Einfluss und Rechte an Politikern und Medien verhandelt. Trotzdem kommt es aus der Mode, oder besser, ausser Gebrauch.
Nicht nur, weil es eine alte Form ist. Der eigentliche Paradigmenwechsel dürfte eine Veränderung in der Wahrnehmung und Bewertung von Abstand sein. Die Gesellschaft, aus der die Norm der Vorstellung eines Freundes kommt, definiert sich über Distanz, also einen messbaren, unveränderlichen Abstand, der zu respektieren ist. Man ist eventuell bereit, die Distanz beiseite zu lassen, wenn dabei die Norm der Vorstellung als Zeichen des Respekts der Distanz gewahrt wird. Man möchte gefragt werden, ob man die Distanz behalten möchte. Man nimmt damit ein Angebot an, bei dem man sich durch den Vermittler auf die Ernsthaftigkeit des Bemühens verlassen kann. Die Distanz wird von allen Beteiligten nicht in Frage gestellt, sondern respektiert.
In der nachbürgerlichen Gesellschaft ist Distanz eher verpönt. An ihre Stelle ist mit dem vulgärkapitalistischen Wettbewerb die Konkurrenz getreten; ein relativer Wert, volatil und unsicher, eine wechselnde Führerschaft implizierend und schon im Kern darauf angelegt, die Vorzüge und Werte der anderen zu übertreffen. Man muss sich nicht vorstellen lassen, um jemanden zu verdrängen. Man braucht keine Form, wenn es darum geht, Vorteile zu ergattern. Und auch keinen Respekt, denn natürlich wird einem auch kein Respekt zuteil, wenn man den Wettbewerb verliert und dabei feststellen muss, dass die neue Konkurrenz an der alten Distanz immer noch scheitern kann. An die Stelle einer in aller Regel gewährten Durchlässigkeit tritt eine erzwungene Distanzlosigkeit der Brechstange; rutscht diese ab und verletzt jenen, der sich Zugang verschaffen wollte, ist auch kein Mitleid zu erwarten.
Von mir schon gleich gar nicht. Um ehrlich zu sein, ich liebe es geradezu, kumpelhaften PR-Leuten und aufdringlichen Werbern ihre Anmachen auf Augenhöhe mit dieser spezifischen “Gern stelle ich Ihnen meine Rechtsvertretung vor”-Haltung zu begegnen, die das Internet dank eines Gesetzes gegen unverlangte Werbepost erlaubt. Es macht mir Spass, all diese Mareikes und Marios zu demütigen, ihre traurige Betätigung zu entwürdigen, und zwar unabhängig von der Art des Plunders und der Lügen, die sie verkaufen wollen. Ich glaube natürlich nicht an die Möglichkeit, jene zu nachträglich zu erziehen. Ich glaube aber an Distanz und an ihre Durchsetzbarkeit durch Sichtbarmachung. Und bitte, es ist keine Anstrengung und keine grosse Überlegung: Man tut so etwas instinktiv.
Natürlich entspricht das nicht dem illusionsbeladenen Zeitgeist, der von allen verlangt, Teil einer distanzlosen “Community” zu sein, “must haves” wie alle anderen zu besitzen und das recht zu haben, mit allen überall sofort zu reden. Nichts gegen Demokratie und Gleichheit vor dem Gesetz; aber angesichts der Schlachtrufe wie “Yo Alda was geht ab” und “Rufen Sie jetzt ab und wählen Sie das Topmodell” würde ich mich gern auf der anderen Seite der gesellschaftlichen Möglichkeiten definieren. Sehr viel Distanz haben. Und denen auf gar keinen Fall vorgestellt werden.