Er verstopfte die Türritzen mit Zeitungspapier und legte sich dann auf das Bett.
Nazim Hikmet, Die Romantiker
Gemeinhin zieht man an den See, um dort Sommerfrische zu halten, den Ärger des Alltags ein paar Wochen oder gar Monate zu vergessen, dem schlichten Landleben mit seinen 14-schichtigen Torten zu frönen; hat man Kinder, begehen die einigen Unfug und sind sie älter, schleppen sie falsche Geschlechtspartner an; hin und wieder kommen Freunde vorbei, und angesichts der Festivals in Kreuth, Innsbruck, Schwaz, München und Salzburg weiss man nicht, wie man das alles schaffen soll, und zwischendrin müssen die Damen nach Mailand oder zumindest nach Verona, weil die Kleider nicht reichen. Der Himmel ist blau, das Wasser ist warm, man lächelt über die Urlauber, die nach zwei Wochen wieder fahren müssen und anderen Platz machen, die auch nicht lang bleiben. Es ist eine schöne und gute Zeit, die Zeit der Sommerfrische, und so bedarf es einiger Erklärung, warum ich fern des Sees bin, in jener Donauebene in der dummen, kleinen Stadt, in der mein Stammhaus zu finden ist.
Dass ich nun hier sitze und den langsam steigenden Preis einer Silberkanne des Jahres 1819 betrachte, hat seinen tieferen Grund in der Idee der Stadtväter vor 25 Jahren, man müsse etwas zur Belebung der Altstadt tun. Zu diesem Zweck wurde ein Bürgerfest ins Leben gerufen, völlig frei von jeder Tradition und damit auch allen Bewohnern zur Gestaltung überlassen; es kamen die Ausländervereine und Trachtengruppen, die Motorsportfreunde und unser Schülertheater, die Verkaufsbuden und Sambatrommlerinnen. Kurz, es kamen alle, setzten sich unter den blauen Himmel Oberbayerns, der Fluss strömte vorbei, und das Leben war so dumm, angenehm und klein wie diese Stadt und ihre Weltmarke, die erst später zu jenem Traum aller Verteter und Sachbearbeiter wurde, die sie jetzt ist.
Auch die Stadt veränderte sich; aus den verschlafenen Altstadtgassen wurden Investitionsgebiete, aus Äckern Bauland, und das tiefschwarze Heimatblatt gewöhnte es sich an, von der kleinen, dummen Stadt als “die Boomtown Deutschlands” zu sprechen. Wir wurden auch älter, erreichten das in Deutschland einzig nennenswerte, bayerische Abitur und studierten in München das Nachtleben, Grünwalder Villen, deren verreiste Besitzer sie frei von angemessenen Bedenken in der Obhut ihrer Söhne zurückgelassen hatten, und das Fahrverhalten eines gelben Fiat Uno Turbo auf dem Mittleren Ring, was beinahe mit einem Fahrverbot für den Fahrzeughalter – den zu jenem Zeitpunkt in der Provinz schlafenden Zahnarzt-Onkel der auf dem Rücksitz laut singenden Nichte – endete. Ab und zu, wenn es sich nicht vermeiden liess, kamen wir heim. Und gerieten auf das Bürgerfest.
Damals war es des Nachts zu dem geworden, was es bis heute ist: Eine sinnlose Sauferei von Leuten, die von weither zu eben jenem Zweck anreisen. Halb Niederbayern verliess die Bäume und sogar Oberpfälzer kamen aus ihren Höhlen, um sich Prügeleien mit den Bewohnern schlechterer heimatlicher Viertel liefern, Glas auf den Strassen zertrümmern und sich auch sonst so benehmen, dass man kaum von “Bürgern” sprechen möchte. Der kulturelle Anspruch lag in etwa auf dem Niveau der politischen Integrität der Staatspartei. Es war einfach eine gute Gelegenheit, sich kollektiv zu betrinken und angesichts der Menschenmassen Dinge zu tun, die selbst in der Oberpfalz verpönt wären. Für ein Wochenende verwandelte sich die Altstadt in einen stinkenden, dröhnenden Moloch; einen Abgrund, dem man nicht entgeht, wenn man hier über eine grössere Immobilie verfügt und diese beschützen möchte. Ich habe so eine Immobilie.
Es herrscht Ausnahmezustand, während der Preis der Silberkanne in schmerzvolle Regionen steigt. Polizei an allen Ecken und Enden der Stadt, dann Sirenen, irgendwo muss etwas passiert sein, eine Schlägerei vielleicht oder ein Raub, eine versuchte Vergewaltigung oder eine Messerstecherei; etwas sehr Unbürgerliches jedenfalls, weshalb die Ordnungskäfte mit Blaulicht Streife fahren und in alle Hauseingänge blicken. Hier jedoch ist niemand; Leute mit Blasenproblemen und andere Paarhufer gehen bei mir schnell weiter, wenn ich den Strahl der Stablampe auf sie richte. Bürger, ich hätte jetzt gerne eine Schrotflinte, um die mit Sauborsten und Salz zu füllen, würde ich mir gern denken, aber das ist illegal, und so belasse ich es bei der Lampe, beim Rufen und, falls dennoch einer meint, billige Pizza und Alkohol aus welcher Körperöffnung auch immer der Strasse überantworten zu müssen, bei einem grellen Blitzlicht der Kamera. Wenn man das mehrmals mitgemacht hat, weiss man, was denen nicht gefällt.
Trotzdem ist man gewillt, die eigene gute Herkunft zu vergessen, je mehr vor dem Fenster in die Nacht gebrüllt wird. Gruppen stehen sich gegenüber, fuchteln mit den Mobiltelefonen und streiten sich bis auf das Blut über Belanglosigkeiten, von denen sie nach dem Abflauen des Rausches nicht mehr wissen werden. Eine erstaunliche Mischung des indigenen Dialekts mit teils russischer Schwerfälligkeit und türkisch-berlinierischer Aggressivität dringt hoch zu mir, und nach einer Viertel Stunde frage ich mich, was passieren würde, wenn ich in die Küche ginge und ihnen den Bierkrug zuwürfe, den ich als Andenken an den bayerischen Wirtschaftsminister und dessen Internetkongress in der Residenz aufbewahre, und der mit seinem aufgedruckten Spruch “B2B in Upper Franconia means Beer and Business” in Teilen erklärt, warum hier das Gscher auf der Strasse so ist, wie die Herren in München und unserer Stadtverwaltung.
Statt eines anheizenden Momentums mit jenem ministerlichen Bierkrug gehe ich hinunter und bitte die Anwesenden um Ruhe, was überraschenderweise ohne Messerstich in meinen Bauch vonstatten geht. Die Türken entschuldigen sich sogar, die einen gehen in die eine Richtung, die anderen torkeln in die andere. Ich schaue, ob der Weinstock Schaden genommen hat, und eine junge Frau kommt die Strasse herunter. Sie trägt hohe Schuhe und geht so schnell, wie Frauen gehen, die unsicher sind, Tacktacktacktack, die Arme verschränkt und Blickkontakt vermeidend. Sie ist allein. Sie fühlt sich unwohl. Vorne brüllen die Besoffenen wieder, und sie wechselt die Strassenseite. Diese Sommerabende beginnnen mit dem Verlangen und enden in der Angst.
Ich mache eine kleine Runde um den Block, nur zur Sicherheit; vor drei Jahren fand ich zudem einen Schirm, den ich immer noch benutze, und in den vergangenen Jahren den ein oder anderen hilflosen Menschen. So sehr ich an deren Eigenverantwortung glaube, so starb in meiner Jugend auch ein Bekannter, den seine Freunde mit Alkoholvergiftung vor dem Gartentor seiner Eltern abgeladen hatte, wo er einen alles andere als meiner Klasse angemessenen Tod fand. Ich mag keine Leichen vor meinem Haus. Allerdings erfährt meine Hilfsbereitschaft einen Dämpfer, als ich zum Münster komme. Nachdem während der letzten Fussball-WM jemand eine Rotweinflasche auf den Kalkstein des frisch restaurierten Portals der Zeit um 1430 geworfen und schwer beschädigt hatte, sind die Portale diesmal umzäunt, aber das hält nicht jeden ab, das Baudenkmal als Pissoir zu missbrauchen. Die tun das einfach. Auf der einen Seite ungehindert, auf der anderen Seite dagegen vor den Augen der Polizei, die das für zu wenige zu einem teuren Vergnügen macht.
Wieder beschleicht mich ein Gedanke, sollen sie doch alle – und dann gehe ich heim. Vor dem Haus wieder johlende Gestalten und kleine Klumpen auf der Strasse, die sich bewegen. Es sind die jungen Amseln, deren Nest im Weinstock ist, sie müssen in Panik geraten und auf die Strasse gepurzelt sein. Der Mob findet das witzig. Hier draussen werden sie nicht überleben, also mache ich mich unter dem Gelächter der Bürger daran, sie einzufangen. In meiner Jacke geborgen, und bringe sie in den Hof, von wo aus es nur ein kleiner Hupser zurück ins Nest ist. Als ich in meiner Wohnung bin, ist die Kanne bereits verkauft, aber sie wäre mir ohnehin zu teuer gewesen. Draussen schreien sie wieder. Manchmal denke ich, es sollte nicht weniger Klassengesellschaft geben, sondern mehr. Die Altstadt jenen, die historische Bausubstanz zu schätzen wissen, und das Besäufnis wird sicher nicht schlechter, wenn man es woanders macht. Die kleine, dumme Stadt an der Donau hat genug schlechtere Viertel.
Begleitmusik: Jetzt ist es morgen, und gerade hüpften Amselmama und ein Amselkind vorbei, und das Tschilpen von der Fahnenstange vor meinem Fenster ist sehr erfreulich. Trotzdem möchte ich den Tonträger empfehlen, der mich durch die Nacht des Geschreis gebracht hat; es sind die bei Accent erschienenen Concerti von Johann Friedrich Fasch, die jener Zeitgenosse Bachs mit grossem Erfolg an die Höfe von Dresden und Darmstadt schickte, wo sie in den letzten Jahren wiederentdeckt wurden. Ein wenig klingt Vivaldi an, und auch etwas Telemann, eine wirklich angenehmer Teppich aus Musik, der sich durch die offenen Fenster in eine Nacht ausbeitete, die in sich vieles vereinte, was diese Stadt so klein und dumm macht.