Gräfin: “Eine Ungerechtigkeit? Ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu verstehen.”
Demetrius Schrutz, Vornehme Welt
Demnächst müsste das Sozialministerium wieder einen “Armut- und Reichtumsbericht” bringen, der die üblichen Ergebnisse aufzeigen wird. Unten ist und bleibt es schlimm, in der Mitte bröckelt es weiter, und oben – nun, oben wird es spannend, denn während sich an der eher erfreulichen Einkommenssituation wenig geändert haben sollte, ist beim Vermögen dank Wirtschaftskrise mit massiven Einbrüchen zu rechnen. Der grösste Teil der Verluste an Börsen und in Fonds, bei Rohstoffen und im grauen Kapitalmarkt betrifft jene Klasse, die im richtigen Kapitel eben jenes Berichts auftaucht. Man darf gespannt sein, ob diese Umwälzungen Erwähnung finden. Reich jedenfalls ist man als Alleinstehender mit Bezügen ab 3418 Euro netto im Monat, und 21% der Berliner beziehen Hartz IV.
Wie auch immer: Die verkürzte Version der Medien wird der übliche Aufschrei mit den üblichen Statements der Elendsverwalter sein, man wird zwei Tage lamentieren und lafontainsche Forderungen so ernsthaft in Erwägung ziehen wie die Reise zum Jupiter, aber dann doch nicht so ernst wie einen Währungsschnitt wegen der Staatsverschuldung und dem Zusammenbruch von Italien. Man wird ein paar Arme zeigen und nach einer Woche wieder vergessen, und die Reichen werden nichts sagen und abwarten. Ich aber denke, dass man sich – als Einstimmung – ruhig mal anschauen kann, wie so ein Tag im richtigen Kapitel aussieht. Letzter Sonntag, zum Beispiel.
Wir befinden uns im schönen Oberbayern nahe der Alpen. Das Wetter ist für alle gleich entsetzlich, und am gleichesten für die armen Schweine, die an diesem Tag dort Fahrradurlaub mit Zelt machen, wo man eine Wohnung hat. 13 Grad plus, Schnee bis 1700 Meter, am Tag davor 24 Stunden Regen und zwar so viel wie im ganzen Juli. Heute noch mal der halbe Juli. Man steht auf, betrachtet den Weltuntergang durch das Panoramafenster, und stapft durch die Regenwolke, die sich wie eine alte Kurgästin nach vier Stück Torte vom See heraufschleppt, hinüber zum Wagen, grüsst kurz die Nachbarn, die nach Bad Tölz fahren, und macht sich auf den Weg nach Benediktbeuren.
Man wartet dort etwas auf dem Parkplatz, bis die Bekannten aus München kommen. Nachdem der Regen freundlicherweise aufgehört hat, schlendert man hinüber zur Tenne, und unterhält sich über das immer gleiche Problem aller Münchner, die nicht wirklich reich sind: Die Immobilienpreise. Schlimm ist es, bekommt man zu hören, in der Krise will jeder Sicherheit, und in guten Lagen reichen die 400.000, erspart in 10 Jahren, kaum aus, um die 140 m² zu erwerben, die man zwecks Nachwuchstorschlusspanik in einer guten Lage bräuchte. Sie sind ohnehin schon zu alt, verkneift man sich. Der Vorschlag, doch etwas in dieser Region zu erwerben, wo die Kinder auch eines dieser riesigen, heute so schicken Trampolins haben könnten, wird kategorisch abgelehnt. München oder nichts. Altbau oder nichts. Also gar nichts, ist man versucht zu sagen, und zahlt beiläufig den Eintritt, der mit 2,50 Euro die Gaffer, Fahrradtouristen, deplazierte Digitaliennutzer und Pauschaltouristen vom Antikmarkt abhält. Drinnen ist Photographierverbot. Mehr oder weniger.
Darin der übliche Wahnsinn, ruinös teuer, mittelmässige Bilder für Museumspreise, ein gutes Gemälde im Saal, aber gleich über 5000 Euro und nur 20 mal 30 Zentimeter klein. Die Bücher eine milde Enttäuschung, ein Baedeker von 1952 wird erworben, damit man wenigstens etwas hat, und das Münchner Paar schnappt nach Luft, als es den Preis für den Biedermeiertisch vernimmt. Biedermeier wird nicht mehr billiger in dieser Region, alle wollen Biedermeier ausser jenen, die sich Rokoko leisten können. Die Klagen des Paares werden nicht leiser, als das Gespräch auf einen kleinen Damenschreibtisch mit Intarsien und Klappschreibfläche kommt, in dem das Notebook doch so schön verschwinden könnte. Man würgt ob der Klagen etwas an einer bösen Bemerkung a la “Schon schlimm, wenn man so arm ist und etwas ohne Intarsien kaufen muss”, und erzählt, dass bei der nächsten Bodenseeauktion auch ein hübsches Exemplar zum Aufruf kommt. Dafür jedoch haben sie keine Zeit. Arbeiten. Für die Wohnung. Und die Fortpflanzung. Sie sind nett und konservativ, und er nimmt angeblich auch kein Kokain mehr. Für manche sind Kinder ein Armutsrisiko, hier werden sie ein Mittelstandsrisiko. Sein Vater gibt ihnen nichts, vielleicht weiss der alte Herr auch, warum.
Sie klagen noch etwas über die Steuerbelastung und verabschieden sich, man selbst fährt durch das zunehmend sonnige Oberland und hört dabei die Missa Bruxellensis von Biber, eine gehobene Antwort auf die kitschige Volksfrömmigkeit. Die Strassen sind voll mit schweren Automobilen, die mit dem blauen Himmel Richtung Tegernsee ziehen. In Gmund hält man an, und steht eine Viertel Stunde an der Vitrine des Konditors, während alte Frauen beratschlagen, mit welcher Kalorienbombe sie das Gesundheitssystem schädigen wollen, und ob man zur Käsesahne extra Sahne nehmen soll. Die Anführerin der Gruppe zahlt alles und führt dabei den geschickten Umgang mit diversen Hermes-Lederwaren vor. Es ist Sonntag. Man nimmt die Erdbeer-Marzipan-Bombe. Der Mann mit dem SUV verlangt dagegen nach einem Erzeugnis der Springerpresse.
Man beschliesst, ihn beizeiten zu demütigen und kehrt heim, macht Tee, liest etwas über Maria Callas und Sirmione. Es ist nicht wirklich angenehme Lektüre, den die Villa der Callas wurde leider in Eigentumswohnungen bar aller Grandezza umgebaut, und Sirmione ist heute ein hässliches Kaff voller lauter Schulklassen. Man hadert kurz mit dem eigenen Schicksal; vor zwei Jahren hat man überlegt, sich am Gardasee niederzulassen, und nun wurde es aus praktischen Erwägungen doch der Tegernsee, aber dann reisst einen das Telefon aus dem Grübeln. K., eine andere Münchner Bekannte erzählt, dass es sie nun vermutlich auch erwischen wird: Die Bank muss weiter sparen, egal wie hübsch sie die letzten Quartalszahlen frisiert haben. Man würde sie jederzeit als Privatsekretärin einstellen, könnte man es sich nur leisten, sie lacht, und dann verabredet man sich für nächste Woche in München.
Noch so ein lebensuntüchtiges und überflüssiges Geschöpf, denkt man sich, es gibt so viele davon, die Zweckehen gedeihen wie Zwangsversteigerungen in England, und daheim wäre gestern auch ein Termin wahrzunehmen gewesen, die Verehelichung der P., die sicher traurig war, dass all die Planungen für ein Gartenfest hinweggewaschen wurden. Eine Karte wäre auch noch zu schreiben und ein Geldschein einzufügen, dazu gequälte Zeilen ob des Umstandes, dass beide Wiederholungstäter sind und sich mit einem erneuten Scheidungskrieg wie bei ihm fraglos – wäre es sehr unschicklich, zwei Karten zu schreiben und nur ihre Karte mit einem Schein zu versehen?
So verfliesst der Tag im Ungewissen und Unwägbaren, man weiss nicht, was kommen wird, aber immerhin ist der Sonnenuntergang grandios. Später, von schlechten Gefühlen getrieben, ruft noch mal K. an und fragt, ob auch alles in Ordnung ist, aber sie meint, ihre Eltern würden sie im Zweifelsfall schon durchbringen, und Sorgen mache sie sich erst, wenn es soweit ist. Sie ist damit ein sehr klassisches Produkt dieser Schicht, könnte man sagen. Einzelkind. Alles wird einmal auf sie zulaufen, was soll also schon passieren. Nichts, eben.