Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Das Auseinanderbrechen der Gesellschaft am Zwetschgendatschi

Oft sind es ja die kleinen Dinge, die unscheinbaren Verbindungen, an denen sich die Risse in der Gesellschaft am deutlichsten zeigen, wenn man nur genauer hinschaut. Zwetschgendatschi war immer eine einigende Erfahrung aller Kinder; zumindest in meiner Jugend, als es in dieser Jahreszeit keine bessere Möglichkeit gab, die Last der übervollen Bäume zur Last der übervollen Mägen zu machen. Für mich hat sich das nicnt geändert, aber andere müssen zahlen - wenn sie überhaupt noch in den Genuss kommen.

“Sturm auf den Korb, und rette sich, wer kann, ohne jede Rücksicht auf die Kinderstube!” rief Gasparino Salvo und gab das Beispiel.
Luigi Pirandello. Einer nach dem anderen

Ich war gerade beim Bäcker, sagte meine Frau Mama. Da wurde mir Zwetschgendatschi angeboten. Sonderangebot. Du wirst es nicht glauben: 4 Euro 20 für zwei Stückerl. Und die waren winzig!

Ich weiss, sagte ich. Letzthin hörte ich, dass man in München für ein Stück 3,20 Euro verlangt. Unglaublich.

Und so fuhr ich dann also zu meiner Mutter ins alte Westviertel und machte Zwetschgendatschi, musste aufgrund der Unmengen zwei Bleche machen, überfrass mich daran, bin nun von der Schwerkraft im Stuhle festgenagelt, und nachdem ich ohnehin nicht mehr aufstehen kann, sehe mich veranlasst, etwas über die Ursache meiner Immobilität zu schreiben.

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Zwetschgendatschi ist ein Essen für arme Leute. Mehl, Hefe und Wasser kosten fast nichts, und was die Belag angeht: Traditionell stiehlt man Zwetschgen irgendwo, wenn man nicht jemanden kennt, der einen Baum hat. Ich stehle beispielsweise in Neuburg an der Donau, dem nächsten Kaff flussabwärts, wo die Zwetschgen besser und die ortstypischen Schurken schurkiger sind. Dort gibt es mehr oder weniger bewirtschaftete Streuobstwiesen, dort trifft es ohnehin nur desinteressierte Bauern oder im schlimmsten Fall Neuburger. Zwei Bleche Zwetschgendatschi mit 40 Stücken kosten etwas Arbeit und 2 Euro, mit gekauften Zwetschgen 6 Euro. Die Herstellung ist kinderleicht, wir haben damit als Kinder dann auch den ersten Kuchen gebacken.

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Heute dagegen geht der Datschi den Weg des Flusskrebses, der vor zwei Jahrhunderten noch eine Armenspeise war und inzwischen fast ausgerottet ist, weil er meiner Klasse als besonderer Genuss galt. Im Kochbuch meiner Ururgrossmutter, das der Köchin als Vorgabe für ihr Tageswerk diente, sind 12 handgeschriebene Seiten mit Rezepten nur zum Flusskrebs. Und kein Rezept für Datschi. Der war, wie Spiegelei und Knödelteig, viel zu simpel, um Erwähnung zu finden. Den konnte man unter gar keinen Umständen Gästen servieren. Man hätte Fragen gestellt wie: Kann die Köchin der Dame des Hauses nichts anderes? Sind sie bankrott? Ist das eine Aufforderung, wieder zu gehen? Für die Gäste gab es Torte. Datschi war was für Kindergeburtstage, und wurde auch entsprechend stillos gegessen: Mit der Hand warm vom Blech runter. Im Stehen. Wenn man nicht ohnehin schon vorher die heissen Zwetschgen vom Teig runter stahl. Ein unbürgerliches Essen, bei dem Benehmen nicht so wichtig war, denn es war ohnehin zu viel da. Bei Torte galt: Nie mehr als ein Stück und das zweite Stück nur, wenn man bedrängt wurde. Bei Datschi galt: Ist noch was da?

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Nie wäre jemand auf die Idee gekommen, diesem niedrigesten Standard der bayerischen Küche Worte wie “Kreation” oder “klassisch” anzuhängen. Genau das aber machen heute jene Bäckereien, die für dieses anspruchslose Nichts so viel wie für eine Torte, oder auch mehr verlangen. Früher musste man Zetschgendatschi essen, weil die Früchte verderblich waren und schnell weg mussten; heute verlängern besagte Häuser die Saison mit Importfrüchten und langen beim Preis hin. Alles über einen Euro ist eigentlich Wucher. Aber es geht. Die Leute kaufen das wie verrückt. Essen es mit Gabel vom Teller, nehmen Sahne dazu und benehmen sich, als wäre das etwas Besonderes. Eine Spezialität. Ein ausgefallener Genuss. Es ist zwar nur Teig, Zwetschgen, Hitze und Zucker, aber es wird heute anders vermarktet. 3,20 Euro wirken dann nicht mehr teuer. Das ist etwas, pardon, dös öst ötwos, was man sich leistet, nicht wahr.

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Und wenn ich dann den Teig auswoigle und belege, stelle ich mir eine simple Frage: Warum machen die das nicht selbst? Das dauert eine Stunde, dann hat man genug für drei Tage, man kann sich – wenn man nicht alles sofort isst – durch die verändernden Aromen kosten, denn Datschi heiss vom Blech ist anders als das vom Saft durchgeweichte Exemplar zwei Tage später, man gibt den Mietern im Haus etwas auf gute Nachbarschaft, es ist angenehme und erfüllende Arbeit, der Gang riecht zum Sterben gut – warum machen die das nicht und zahlen 3,20 Euro für ein winziges, computerüberwachtes Stück Maschinendatschi? Eine Beleidigung für jeden halbwegs vernünftig denkenden Menschen, eine Geldmacherei, die aus billigsten Zutaten maximale Profite erwirtschaftet? Warum lässt sich der Mensch einen exklusiven Genuss über einen prohibitiven Preis einreden, wenn, mehr noch als beim selten gewordenen Flusskrebs, alle Fakten dagegen sprechen? Eine Antwort habe ich auch:

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Die Preise sind möglich, weil sie es nicht mehr können. Oder nicht wollen. Es scheint angenehmer zu sein, dafür überzogene Preise zu zahlen, als es selbst zu machen. Vermutlich liegt es einfach auch daran, dass viele Menschen unter “Kochen” das Öffnen einer Packung und das Verfrachten in die Mikrowelle verstehen. Pasta und Fertigsosse. Unter solchen Gesichtspunkten wird ein ganzes selbstbelegtes Blech natürlich eine Herkulesaufgabe, eine logistische Meisterleistung, von der man sich aber bequem mit ein paar Euro Obolus befreien kann. Soweit man die paar Euro übrig hat. Wenn nicht: Die Armeleutespeisen der Gegenwart aus den Giftlüchen des Müllessens leiden ja nicht gerade an einem Mangel an süssem, klebrigen Zeug; da kann man schon mal auf den Datschi verzichten. Früher war die Klassengrenze zwischen jenen, die kochen liessen und jenen, die selbst kochen mussten und denen, die froh sein konnten, wenn sie etwas zum kochen hatten. Heute, in meiner urbanen Generation, verläuft sie zwischen jenen, die das noch können, jenen, die es nicht mehr beherrschen und finanziell ausgekernt werden, und jenen, die es nicht können und sich nicht mehr leisten können. In Berlin, hört man, werden schon Wohnungen ohne Küchen geplant. Und aus dem einigenden, grenzenlosen Genuss der Kindheit wird so eine Spezialität für diejenigen, die sich das leisten und, ironischer Nebeneffekt, Anlass zur Verärgerung im Westviertel der Stadt, wo man den Wucher auch als solchen erkennt und weiss, wie man ihm, dem Steuereintreiber gleich, entgeht. Der Zwetschgendatschi, die ehemalige Kalorienbombe der Armen und die heimliche Sünde der Reichen jedoch darf sich über sein neues Sozialprestige freuen. Nicht, weil man ihn, wie den Flusskrebs, den Armen genommen hat. Es ist kein gestiegenes, oben entdecktes Kulturgut, eine Mode der Strasse, die in den Villen angekommen ist: Die Gesellschaft um ihn herum ist herabgesunken. Die Armen haben noh immer nichts, der Mittelstand zahlt, und die Reichen prassen.

Hölle, war mir nachher schlecht.

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Begleitmusik: Und ich bin jetzt doch zum CD-Schrank gerollt und habe zu einem Tonträger gegriffen, der zumindest die Illusion einer klassenlosen Gesellschaft als Grundlage seiner Musik hat: A l’ombre d’un Ormeau von alpha bringt ländliche Lieder und Tänze des 18. Jahrhunderts, die damals unterschiedslos im Sommer geträllert wurden. Die besten Stücke sind übrigens mit dem Dudelsack gespielt, was im ersten Moment sehr fremd, dann aber äusserst reizvoll klingt. Beileibe nicht anspruchslos. Es ist das Grosse und Schöne im Einfachen. Auch ein Zwetschgendatschi ist ja kein simpler, ländlicher Genuss, sondern eine komplexe Geschmackserfahrung, wenn er mit den richtigen Zwetschgen vom richtigen Sohn gemacht wird. Ich denke, ich werde heute noch nach Neuburg radeln, und diese Musik pfeifen.