Und sie kamen bis an den Bach Eschkol und schnitten dort eine Rebe ab mit einer Weintraube und trugen sie zu zweien auf einer Stange.
Moses, 4. Buch
Wenngleich ich auch eintrete für Ordnung auf den Strassen und gegen Müllimporte der ökonomischen Globalisierung, obwohl die beste aller möglichen Welten in meinen Augen das alte Westdeutschland ist, das sich nicht um ostdeutsche und andere afghanische Angelegenheiten kümmern muss, und hier wiederum jene Klasse, die sich auch nicht um die anderen Klassen kümmern muss; wenn ich also wirken mag, als sei ich nachgerade nostalgisch, veraltet oder gar reaktionär – so bin auch ich nur ein Produkt des Zerfalls einer Schicht, die es bald in der mir bekannten Form nicht mehr geben wird.
Denn die Zielstrebigkeit der besseren Gesellschaft, eine eben solche zu sein, erschlafft, verliert an Kraft und wird porös wie überdehnter Gummi. Gut 200 Jahre lang, vom Wiener Kongress bis zu den alten Tanten, die heute noch wissen, was man tut und was nicht, dauerte dieser Zustand an, er erschuf sich seinen Wertekanon und Bücherwände, seine genau überwachten Abgrenzungen und ungeschriebenen Gesetze, die um so schärfer befolgt wurden, je weniger sich andere dagegen wehren konnten. Aber selbst im alten Westen hält der Verfall der Sitten Einzug, und da muss man erst gar nicht nach Scheidungen oder Patchworkfamilien fragen. Nein, die schiefe Ebene vom respektierten Vertreter der Gesellschaft über die Grattler und Asozialen bis zum Berliner wird schon in jenem Moment beschritten, da Menschen wie ich an den Weintrauben vorbeikommen, eine pflücken und sie essen. Einfach so.
Zurück bleibt also eine kahle Stelle in der Rebe, eine garstige Protuberanz im Früchtekorb, der in Wohnzimmern und Gängen den Besuchern zeigt, dass es hier niemandem an etwas mangelte. Jeder, der wollte, könnte sich etwas nehmen, sagen die Silberschalen, die – wer ko, der ko – vollkommen unter der süssen Last verschwinden. Aber das tut natürlich niemand. Man pflückt nicht einfach so eine Traube und hinterlässt das Angebinde in diesem angefressenen Zustand.
Die Pflicht ist eine andere: Wenn man denn tatsächlich von der Rebe nimmt, dann gleich einen ganzen Ast, den man stets zuoberst vom Stiel abbricht. Mit diesen Trauben geht man bitteschön in die Küche, wäscht sie erneut – es könnten ja Fliegen daran gewesen sein, trotz aller Vorsicht – legt die feuchten Trauben auf einen Teller – schliesslich ist man ja kein Barackler – und isst sie von dieser Stelle aus. Hat man das ein, zweimal gemacht, und die Stiel ragt evident kahl aus der Natura Morte empor, geplündert und ärmlich wirkend, holt man die Schere und schneidet ihn wieder kurz zurück. Schon stimmt die Optik wieder.
Ich kenne diese Theorie, weil sie mir in der Praxis immer und immer wieder verkündet wurde. Ich gab sehr oft Anlass dazu, denn mein Betragen war immer von kurzfristigen Begierden und nie von langem Stilwollen geprägt. In der Regel pflückte ich die oberste Traube, und wenn meine Mutter es bemerkte, gab ich meinem Vater die Schuld, dem dergleichen auch hin und wieder passierte. Um die Weintrauben wurden zähe Schlachten geschlagen. Der einen Seite, geprägt vom Opportunismus, war das Aussehen eher egal, und die andere argumentierte, so mache man das nicht. Letztendlich übernahm ich das Rupfen, und die andere Seite die Arbeit mit der Schere.
Noch grösser ist der Fauxpas, wenn man die Rebe vor der Präsentation nicht prüft. Jede gute Gastgeberin weiss, dass sich Fäulnis und unschöne Stellen an den Trauben finden können, die man beim Einkaufen übersieht. So, wie jede bessere Familie damit leben muss, dass eine Urgrosstante über einen beträchtlichen Verschleiss an Männern niederer Stände verfügte, hat auch jede Rebe ihre Fehlentwicklungen, und die gilt es auszumerzen. Man stelle sich nur vor, Besuch würde entdecken, dass die Familie kein makelloses Obst präsentierte. Sofort stünden ungeäusserte Fragen im Raum wie “Kann die das nicht besser” oder “Haben die sich beim Versuch der Steuerersparnis mit zu grossem Hebel beim falschen Fonds eingekauft, dass die Minderwertiges präsentieren müssen?”. Oder gar “Sollen wir wieder gehen?”
Es ist das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft, diese Perfektion der Natur aufzudrängen, wie sie sich auch ihre eigene Natur so weit als möglich verkneift, wie man despektierlich über Geschiedene spricht, missratene Zöglinge in Schweizer Internaten zwischenlagert und eben so tut, als gäbe es mit dem Eintritt in diese Gesellschaft weder faulige Makel noch unbeherrschbare Gier. Die Weintrauben der besseren Gesellschaft waren ein Symbol für die perfekte Beherrschung äusserer Fehlentwicklungen und innerer Triebe, bis sie dann nach einer Weile zerlegt, gewaschen und als Nachtisch serviert wurden, um der nächsten Rebe den Platz in den Silberschalen zu überlassen. Es geht die Legende, ein Römer hätte dereinst eine Grenzlinie in den afrikanischen Sand gezogen, und niemand habe es gewagt, sie fürderhin zu überschreiten. Die unberührte Rebe ist nicht weniger als der Beweis für die Aufrechterhaltung von Zucht und Ordnung, die unausgesprochen wirkt. Oder besser – sie war es.
Denn vom Status der letzten vier, fünf, sechs Generationen, die das so hielten und weitergaben, breche ich schon ab und stürze an die 400 Jahre zurück in die Vergangenheit, die sich weniger beherrscht hat. Nahmen die früheren Generationen das Stillleben, das Natura Morte wirklich todernst bis zur Totenstarre, lasse ich die fauligen Früchte an den Reben. Ich drehe sie so hin, dass man sie sieht. Ich rupfe auch gnadenlos an sichtbaren Stellen. Der Stiel meiner Reben ist nicht weniger lang als beim Früchtekorb von Caravaggio. Ich mag es, wenn an allen Ecken und Enden der Zerfall sichtbar wird, ich kaufe gern krumme Gurken und poliere nicht jeden Kratzer aus dem Nussholz. Bei mir sind die Weintrauben nicht mehr Symbol der Beherrschtheit, sondern Ausweis des Niedergangs und der Lasters.
Nun bin ich Kulturhistoriker und wohne in einem Haus des Baujahres 1600, also im Entstehungsjahr der Kunstgattung mit all ihren welkenden Blumen, den angeschnittenen und trocknenden Zitronen und aufbrechenden Granatäpfeln, mit Fliegen, Käfern und toten Tieren; ich kann mich herausreden auf den Ursprung aller Früchtekörbe, die eben nicht gesittet bürgerlich waren, sondern wild, prunkvoll und schäbig zugleich, wo Silber achtlos zusammengeworfen wird und der billige Fisch neben dem teuren Hummer liegt, ich kann vom Reiz der Fäulnis erzählen und vom ewigen Übergang, der in solchen Ensembles zum Ausdruck kommt, in denen das Hohe niedergeworfen wird und das Banale alle tiefere Bedeutung einnimmt.
Aber es steht ausser Frage, dass ich mich damit vom Höhepunkt der Entwicklung meiner Klasse entferne, in weniger respektable Zeiten. 400 Jahre in 40 Jahren Lebenszeit, was andere in 200 Jahren aufgebaut haben. Das geht schnell. Zieht man eine Linie zwischen dem Plateau, auf dem meine Vorfahren stehen, und mir und meinen abgerupften Stengeln, wird es allenfalls ein Jahrhundert dauern, bis sich unsereins wieder wie ein durchschnittlicher Vorstandvorsitzender eines DAX-Konzern daneben benimmt. 110 Jahre nur trennen uns vom Affen auf dem Baum, und in 500 Jahren werden auch unsere Nachkommen in Berlin Mitte vegetieren und nichts dabei finden, in den angesagten Boazn bei überteuertem Billigfrass von schlecht gelauntem Personal mies behandelt zu werden, während man nebenan Werbern und PR-Leuten den Napf nicht unter, sondern auf den Tisch stellt. Schrecklich. Deshalb greife ich übrigens, wenn Gäste kommen, nicht nur zu Silber und Feuer und Kristall und Kerzen, sondern – auch zur Schere. Man muss unter dem Funkeln der Lüster und im wohligen Gleissen der Polkappenabschmelzer wenigstens den Anschein und die Tradition wahren. Und wehe, einer würde es wagen und eine Traube… man kann mit Scheren nicht nur Stiele kappen…
Begleitmusik: Bei all dem sollte man nicht übersehen, dass die Weintraube tatsächlich eine Frucht des Exzesses und der Enthemmung ist. So soll der Sänger Orpheus von Mänaden, den berauschten Anhängerinnen des Bacchus und Mütter aller Malletouristen, im Suff erschlagen worden sein. Claudio Monteverdi war ein stilvoller und gesitteter Komponist, und hat 1607 die Sage rund um den Sänger und seine – letztlich gerettete – Frau Eurydike mit einem guten Ausgang und noch besserer Musik versehen. Bei k617 gibt es eine etwas ältere, aber sehr feine Liveaufnahme dieser bahnbrechenden Oper zu einem wirklich günstigen Preis.