Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.
Grundgesetz §3, Absatz 3
Bei Vermögen und Klassen, die nicht genannt werden, ist das natürlich etwas anderes. Und daraus leitet sich natürlich – zusammen mit der Meinungsfreiheit – das Recht ab, Unterschichten zu definieren. Dass es sie gibt, ist vorauszusetzen in jenem Moment, da man von Oberschicht spricht, was im Rahmen dieses Blogs reichlich typisch ist. Man nimmt die Existenz einer Unterschicht damit billigend in Kauf, man ist vielleicht so höflich, sie nicht zu betrachten – ehrlicher wäre es natürlich, sie wie Thilo Sarrazin als solche zu benennen. Dümmer vermutlich auch, weshalb dieser Herr nun zurücknehmen musste, wohl aus Sorge um seine Tragbarkeit im Amt, und um nicht zurückgetreten zu werden. Ich habe nicht den Eindruck, dass man ihn dabei – jenseits des Springerkonzerns vielleicht, aber das ist auch typisch – bemitleidet.
Dabei ist Sarrazin durchaus so etwas wie der kommende Typus, der Stichwortgeber einer Debatte, die in den nächsten Jahren zu führen sein wird. Nicht auf einem ironisch-hinterfragenden Niveau, das angemessen wäre: Denn tatsächlich ist die Frau mit den besten Manieren, die ich kenne, jene 80-Jährige vom Wochenmarkt, bei der ich Bohnen kaufe, und die mich stets formvollendet in der 3. Person Singular und Konjunktiv anspricht, wie es früher üblich war: “Was hätte Er gebraucht?” Das ist noch der ganz alte Schlag, ganz anders als die Callcenter-Freundlichkeit, die man sonst überall antrifft; auch leider in meinen Kreisen, wo der Nachwuchs jenes nassforsche Auftreten von Versicherungsvertretern erlernt, das er doch eigentlich nicht nötig hätte. “Unkommod” nannte das meine Grossmutter, und sie hatte damit natürlich wie immer Recht.
Natürlich sagt man auch dieses scheinbar antiquierte und bedeutungsschwache Wort nicht ohne Hintergedanken. Unkommod ist ein klarer Makel, eine Art Charakterschwäche, ein deutlicher Hinweis auf einen Mangel an Grosszügigkeit, an sozialer Intelligenz und der Fähigkeit, zur richtigen Zeit die genehmen Lügen vorzutragen. Unkommod ist schon sehr negativ, und unter jenen, die nicht so sind, fast eine Art Todesurteil. “Unterhaltlich”, noch so ein altes Wort, es klingt reichlich seicht, aber das wiederum ist erwünscht. Mit diesen beiden Begriffen kann man sein Umfeld angenehm gestalten, die Unterhaltlichen behalten und die Unkommoden aussortieren. Beide Kategorien sind also nicht nur für die klasseninternen Ausgrenzungsbemühungen tauglich; die sind auch bestens geeignet, andere Klassengrenzen zu überwinden.
Schliesslich lebt man nicht für sich allein in der Oberschicht; man durchschreitet ständig diverse Schichten, hat mit Mietern zu tun, mit Händlern, Taxifahrern, Ärzten, und, wenn es ganz schlimm kommt, auch mit Journalisten, Werbern und, fast so peinlich aber wenigstens diskret, Kammerjägern. Das eigene Leben lässt sich nur angenehm gestalten, wenn man auf allen Ebenen mit unterhaltlichen Leuten zu tun hat, mit denen man ab und an etwas ratschen und vertraulich sein kann. Man muss nicht mit allen über die kynische Philosophie und ihren Einfluss auf die Halacha unter Berücksichtigung des Sefer he-Chassidim reden, aber mit allen so, dass es passt und angenehm ist. Und nie würde man auf die Idee kommen, sie in Verlegenheit zu bringen und die Schichten explizit anzusprechen – es sei denn, es geht gegen klar definierte Regelverstösse wie kriminelles Verhalten, Vandalismus oder ähnlichen Baracklertum. Die Definition des gesellschaftlichen Bodensatzes dient der Versicherung gemeinsamer, klassenverbindender Wertvorstellungen. Es werden nicht Gruppen ausgegrenzt, sondern Individuen. So, wie man im Mittelalter nicht alle Brauer an den Pranger stellte, sondern nur jene, die betrogen hatten, geht es nicht gegen alle Versicherungsvertreter und Politiker. Sondern nur um die, die einem gerade einfallen und mit denen keiner verwandt ist.
Natürlich zeitigt das keine klassenlose Gesellschaft – aber eine Klassengesellschaft, die sich der verbindenden Wertvorstellungen bewusst ist. Und genau das machen all die von Oben agierenden Klassenkämpfer mit den Argumentationsmustern eines Sarrazin anders. Ihre Strategie lautet “Divide et impera”, weil es das ist, was sie auf lateinisch sagen können, und weil sie – ohne Hintergrundwissen um den Niedergang des Imperiums – gehört haben, dass es bei den Römern funktioniert hatte. Es werden ganze Klassen, Schichten und Weltanschauungen ausgesondert und abgewertet: Die Muslime. Die 68er. Die Arbeitslosen. Die armen Familien. Die Alleinerziehenden. Man hackt mit ein paar Phrasen unterhalb, seitlich und über der vom Abstieg bedrohten Mittelschicht die nicht genehmen Gruppen weg. Übrig bleibt letztlich der spiessige Kleinbürger voller Angst, man könnte ihm auch seinen kleinen Status wegnehmen und zu solchen Gruppen rechnen. Gruppen des sozialen Prestigeverlustes, Gruppen, vor denen er sich fürchtet, weil sie nicht seiner und der Herrschenden Norm entsprechen. Gruppen, mit denen man den Mittelstand dazu bringt, die Herrschaft der Spalter von Oben zu lieben.
Das alles ist sehr unkommod und nur einer Herrschaftsklasse möglich, der es nicht reicht, oben zu sein. Eine Klasse, die explizit will, dass andere darunter sind und bleiben, sei es nun als Kuscher und Abnicker, oder als Ausgesonderte, sobald sich das eigene Verdikt dank der Medien und Vorurteile in die Köpfe gegraben hat. Es ist aber auch das Konstrukt einer nur usurpierten “Oberschicht”, die das wichtigste Kriterium nicht erfüllt: Die Souveränität. Souverän ist meine Bohnenfrau, die sich das Recht nimmt, mich in der 3. Person anzusprechen. Thilo Sarrazin ist beim Zurückkriechen kein Jota mehr souverän, oder gar Oberschicht. Nur noch einer, der um seinen Job Angst hat, wie viele andere da unten auch. Das ganze Drama erscheint mir wie eine dieser Gerichtsshows, in denen man Gangs und deren Unterschichtenverhalten gleichzeitig bestraft und vermittelt: Er kam als Sarrazin und ging als Unterschichten-Thilo.
Aus der Souveränität würde jene zweite Eigenschaft erwachsen, die man in einer Klassengesellschaft braucht: Respekt. Nicht umsonst sagt man das bei uns traditionelles Lob: Rrrheschpägt. Das Wort ist höflich und unabhängig von Klassen zu verwenden, es dient der universellen Anerkennung und Verneigung vor dem Tun des Anderen. Beim Unterschichten-Thilo käme mir allenfalls ein ironisches ey Respekt Alda über die Lippen; Respekt würde ich mir wirklich eher für Mütter aufheben, die in einer wirklich schweren Lage um ihre Rechte und Chancen gegen jene Strukturen kämpfen, von denen die Unterschichten-Zampanos dieser Nation profitieren.
Oh bitte, ich weiss, ich benehme mich hier gerade schauderhaft und entsetzlich indiskret. Was ich sage, sagt man nicht. Formal wäre es sicher netter, ich würde mich an die üblichen Normen der Vorwürfe – xenophob, antisozial, rechtspopulistisch hetzend – halten. Ich würde das auch gar nicht bestreiten wollen, aber in meinen Augen ist diese ganze Anmassung einer Klassentrennung vor allem: Unkommod. Leuten von dieser Art will man doch nicht vorgestellt werden, beim Tee wäre die vermutlich eine tickende Zeitbombe, und kaum spräche man über Perser, würden sie einen Sarough womöglich für einen Islamisten halten. Und irgendwo ist in unseren Zeiten und Kreisen immer eine Mutter, deren Tochter geschieden ist und Kinder in Berlin allein erzieht, und die nicht zu allem Unglück auch noch beleidigt werden möchte. Kurz und brutal: Die passen nicht zu uns. Hoffnungsloser Fall.
Findet natürlich trotzdem seine Nachahmer. Das ist dann nicht mehr lächerlich, sondern gefährlich. Denn an dysfunktionalen Entwicklungen in der Gesellschaft, die es fraglos gibt, wendet sich nichts zum Besseren, wenn es zum Vorwand für die Oberschicht genommen wird, sich selbst dysfunktional zu verhalten. Man muss die Dreistigkeit von Jugendgangs nicht respektieren, aber das Benehmen eines reichen Steuerhinterziehers, in Liechtenstein auf “Schadensersatz” für seine Verluste zu klagen, nötigt genauso viel Respekt wie eine eingeschlagene Schaufensterscheibe ab. Und eine einheitliche Staatsgrenze bringt herzlich wenig, wenn die einen ausserhalb Steuern optimieren und den anderen gesagt wird, dass sie hier nur Störfaktoren sind, die bitte keinen Nachwuchs kriegen sollen.
Begleitmusik: Auch Liechtenstein muss nicht immer schlecht sein! So gab es im Olmütz des späten 17. Jahrhunderts auch einen Bischof Karl von Liechtenstein-Castelcorn, der seine Residenzstadt aufbaute, ohne dabei Erträge von Stiftungen für die Steuerhinterzieher seiner Nachbarn zu benutzen. Gleichzeitig war er auch ein Liebhaber der Musik, und Teile der weltlichen Kammerwerke, die sich in Olmütz erhalten haben, spielte das Ensemble CondArte in barocker Art und Pracht bei Panclassics ein.