Ein Jammer, dass sie nicht leben wird. Aber egal – wer tut das schon?
Gaff, Blade Runner
Zeiten des Umbruchs kennen Gewinner, Verlierer und, fast genauso schlimm, Stehenbleiber. Leute, die nicht profitieren, die keinen Sprung nach vorne machen, nicht über ein neues Los gehen und dabei Geld kassieren. Gerade jetzt sind wieder viele Posten zu vergeben, und so mancher wird sich fragen, warum ein wenig geschätzter Bekannter in eine Kommission darf, einem neuen Abgeordneten die Tasche tragen wird, einen sinnlosen, aber gut dotierten Bericht schreibt, oder anderweitig eine schwarzgelbe Clownsnase in jenem Zirkus zu tragen berechtigt ist, den man gemeinhin als Berliner Republik verharmlost. Natürlich spielt die Klassengesellschaft eine Rolle, und so, wie man im Arbeiter- und Bauernstaat die Intellektuellen möglichst fern hielt, begünstigt man heute bei der Vergabe von Pfründen jene, die mit ähnlichen Erfahrungen und Werten aufwarten. Dabei, möchte ich meinen, geht es vielleicht gar nicht so sehr um harte Fakten wie Studiengänge und Abschlüsse, sondern um gemeinsame Erfahrungen, die man eben hat. Oder auch nicht hat.
Oder sich nachträglich zusammenlügt. Das ist nicht wirklich einfach, denn die Erfindung eines Onkels bei einem Arbeitgeberverband hilft nichts, wenn man nicht die Feinheiten kennt, die unausgesprochenen Dünkel und Geschichten, die bedeutungslos erscheinen, aber in Wirklichkeit diese Schicht bestimmen wie die Erinnerungen, die im Film Blade Runner den Replikanten eingepflanzt werden. Wer sie nicht hat, fliegt unweigerlich auf. Wir hier bei den Stützen der Gesellschaft jedoch erkennen den Bedarf der Berliner Republik für solche Replikanten für den Einsatz in weniger gut dotierten oder riskanten Bereichen, und stellen hier deshalb gerne diese klassenspezifischen Erinnerungen zur Selbstverabreichung zur Verfügung.
Da ist beispielsweise die Silberschale im Eingang. In jedem besseren Haushalt findet sich am Eingang so eine Schale, und fast immer ist sie aus Silber, reichlich alt, vom Putzen oft etwas zerkratzt und von sporadischen Stürzen mitunter leicht verbeult, aber das macht sie nur echter. Was immer ihre frühere Funktion gewesen sein mag, nun ist sie fast immer leer, nur ab und an liegt ein Schlüssel oder ein Brief darin. Sicher, sie ist auch ein Ort, an dem man Dinge ablegt, um sie später nicht suchen zu müssen. Ihre wahre Funktion jedoch ist die Entkopplung des inner- und ausserfamiliären Gebens und Nehmens, eine Art neutraler Ort im Haus, an dem Übergaben stattfinden können, ohne dass man dazu anwesend sein müsste. Man kennt diese Funktion, wenn man in diesen Kreisen aufgewachsen ist.
In gewisser Weise sind diese Schalen ein Rest der gesunkenen Adelskultur, in der man bemüht war, Klassengrenzen nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern auch fühlbar zu machen. Zwischen Besucher, Bittsteller, Schuldeneintreiber und Bedienstetem einerseits und dem Hausherrn andererseits war der Diener postiert, der den Kommenden nach seinem Begehr fragte und dann den Herrn fragte, ob es gerade passt. So kam man bei Absagen gar nicht erst in Kontakt mit den Verschmähten, man musste sich nicht dessen Enttäuschung antun und konnte den Tag anderweitig geniessen. Später dann überbrachte der Diener auf dem Silbertablett die Visitenkarten von Besuchern zur Einladung oder Absage, und als der Diener aus den Haushalten verschwand, blieb allein seine Gerätschaft erhalten: In Form der Silberschale.
Ihren symbolischen Charakter offenbaren sie, wenn sie wirklich als Schalen im Sinne von “Füllen und Tragen” benutzt werden. Die meisten Exemplare entstanden in der Zeit des Niedergangs des Dienerstandes rund um 1900, und sie sind aus sehr dünnem Silber gefertigt. Schon ein Kilo Trauben kann eine Schale ruinieren. Sogar die Griffe sind hohl und aus Blechen gelötet. Wenn man sie heute findet und erwirbt, sind sie oft an den Griffen gerissen und neu verlötet, weil sie nicht artgerecht für echte Lasten verwendet wurden.
Geld dagegen ist leicht und artgerecht. Gerade für jenen häuslichen Transaktionen, die nicht immer schicklich sind, die man nicht gerne direkt abwickelt, sei es nun der schwarze Lohn für die Putzfrau, ein Geldschein für das Betanken des Fahrzeugs oder der Zuschuss, weil die Tochter mal wieder nach 3 Wochen kein Geld mehr hat – all das kann stilschweigend über die Schale von der einen Hand in die andere gelangen. Niemand muss sich dem Moment der Schande aussetzen und erkennen, dass es nicht so fein ist, eine Polin für 4 Euro die Stunde schuften zu lassen, oder Schuld auf sich laden, wenn der Sohn bei der Heimfahrt an den Studienort ausprobiert, ob die Karre wirklich 220 geht, oder sich fragen, welche verschwendungssüchtigen Miststücke die Tochter in der letzten Zeit verdorben haben. Kein direkter Kontakt, keine peinlichen Ausreden, keine schlechten Gefühle.
All der Glanz und Prunk, das Funkeln und Gleissen, die Kunst und der Wert – sie können den Kundigen nicht darüber täuschen, dass sie nicht mehr als eine verweigerte Kommunikation sind, eine Möglichkeit, etwas Unangenehmen zu entgehen. Das gilt auch für die Versäumnisse von Eltern. Oft, zu oft liegen in den Schalen die Karten für den Konzertverein, da man weder die Schlagzeug-Preisträger erleben will, noch die Madrigalsänger, und kein Mozart kann so schön sein, dass er einen vorher den Schönberg durchleiden lassen würde. Dann muss der Nachwuchs für die öffentliche Verpflichtung einstehen, und wenn er selbst auch Karten hat, dann eben seine Bekannten, denn Frau Mama hat Migräne. Man liegt bequem vor dem Freitagskrimi und muss sich von der Brut keine Vorhaltungen über die Kulturlosigkeit anhören, wenn sie draussen die Karten in der Silberschale vorfindet, gleich neben dem Autoschlüssel für den grossen Wagen. Und dem Schein für die Pause und das Danach, natürlich.
Zyniker würden in all den neubaroken, biedermeierlichen und mit Rocaillen verzierten Schalen Symbole der bürgerlichen Verlogenheit sehen, der Gefühlskälte und der arroganten Äusserlichkeit, hinter der die Abgründe lauern – aber, seien wir ehrlich, sie ist einfach ein Zeichen der Bequemlichkeit. Man muss nicht jeden Konflikt austragen, die ideologischen Differenzen der Generationen einbetonieren, man braucht Orte des pragmatischen Ausgleichs, ohne deshalb die eigene Theorie in Frage zu stellen. Es ist bequem, diesen distanzierten Ausweg zu haben, jenen funkelnden Ort des Kompromisses, der nebenbei auch den Gästen gleich beim Betreten zeigt, dass man nicht auf der Brennsuppe dahergeschwommen ist.
Und schliesslich: Man kennt es ja auch nicht anders. Weil man es nicht anders kennt, gerinnt der Ausfluss von Lüge und Selbstbetrug irgendwann zu fester Tradition und Sitte, und die erste eigene, vielleicht etwas ausgefallene, aber dennoch im Kern trationelle Silberschale findet ihren Platz wiederum selbstverständlich im Eingangsbereich der Wohnung. Wo sie dem Kundigen auf Besuch vielleicht ein Lächeln entlockt, denn schliesslich kennt er deren Bedeutung und erinnert sich vielleicht jenes Scheins, den er dort für den Zweck einer Tankfüllung und als tatsächliches Mittel zur Verführung einer Apothekerstochter vorfand. Das aber ist eine, wenngleich unverzichtbare, so doch ungleich riskantere Erinnerungserfindung für die neuen Replikanten der Berliner Republik, so dass davon gesondert zu berichten sein wird – so lange sollte es genügen, sich selbst eine solche Schale zu beschaffen, wenn man politische Hoffnungsträger invitiert.
In unserer Ära muss es übrigens kein teures Silber der Kaiserzeit sein – für heutige Replikantenaufstiege in jenen Parteien reichen sicher auch schon Repliken von Alessi.