Ihre Augen waren schiefergrau und fast völlig ausdruckslos, als sie mich ansahen.
Raymond Chandler, Der grosse Schlaf
Den Zustand einer gesellschaftlichen Klasse erkennt man auch an der Zufriedenheit und dem Wesen ihrer Büttel, Nutzniesser und Profiteure; das besserverdienende deutsche Bürgertum etwa machte jüngst Herrn Westerwelle glücklich, und neben diesen offensichtlichen Gewinnern des Zerfalls gibt es auch noch andere, die mit allen Erscheinungen des Niedergangs der Klasse aufwarten: Nirgends wird das so deutlich wie bei der ehrwürdigen Berufung der Heiratsschwindelei, die in der Belle Epoque zwar äusserst gefürchtet, aber auch sehr unterhaltlich war: Auf Bällen konnte man die neuesten Skandale verplauschen und Konkurrenten anschwärzen, und wenn dann so ein junger Leichtsinniger oder eine falsche Gräfin den Zug nahm, Schulden hinterliess und den Familienschmuck an einem fernen Badeort versetzte, hatte man eine jener runden Geschichten, in denen alles vorkam, was man selbst nicht erdulden, sehr gern aber hören wollte.
Das ist natürlich heute längst vorbei. Schuld sind moderne Ermittlungsverfahren und fälschungssichere Pässe, ein starker, gesetzesgespickter Staat und die nicht mehr vorhandene Angst der Betrogenen vor der gesellschaftlichen Ächtung. In einer Zeit, da auch in den besseren Kreisen die Scheidung die Normalität ist, werden Flüchtige nicht mehr verschwiegen, und niemanden würden sie mit geklautem Vermögen an die Riviera reisen lassen, um einen Skandal zu verhindern.
Auch ist es nicht mehr so leicht, heute Raubgut zu versilbern. Früher hängte man das Vermögen in Schmuck an Frauen, heute hängt es, wenn man Pech hat, als Leipziger Schule wertlos an der Wand, oder steckt in virtuellen, ähnlich wertlosen Aktien und Derivaten auf Bankcomputern. Der letzte in unserer kleinen, dummen Stadt aktenkundig gewordene Fall, die in die Schweiz entfleuchte Gattin eines Elektromittelständlerserben, vertraute irrigerweise darauf, nach der Konto- und Safeplünderung trotzdem gefahrlos deutschen Boden betreten zu können. Kreditkarten sind mit einem Anruf gesperrt, Tafelpapiere werden nicht mehr ausgegeben, und wer sich mit Altbeständen erwischen lässt, hat schnell die Steuerfahndung am Hals. Kurz, man kann kaum so viel erraffen, wie in Zeiten wie unseren nötig wäre, das nächste Opfer zu finden und auszuplündern.
Ungeachtet dessen ist der Heiratsschwindel nicht ausgestorben; vielmehr ändert sich seine Strategie. Und so, wie das Bürgertum nicht mehr Bälle bevölkert, selbst in der Oper schlecht angezogen die Nase kratzt und sich auch sonst mausgrau und bescheiden gibt, schlichte Kleidung trägt und mit dem Rollensack anstelle des Überseekoffers verreist – genau so hat sich der Heiratsschwindler angepasst. Nicht mehr der strahlende junge Mann mit den überschliffenen Manieren ist das Problem, oder das blonde Unheil in mondäner Aufmachung. Nein, wie man in den letzten Wochen hier bei uns vertratschte, ist der moderne Heiratsschwindel mausgrau, unauffällig und ein Garant für bürgerliche Werte.
Und, so erkennt man jetzt, vor allem nicht mehr flüchtig. Heiratsschwindler der alten Schule waren irgendwann weg, hinterliessen einen Schaden und schlimmstenfalls ein Kind, das man in einem Internat versteckte. Ihre modernen Nachfolger bleiben da, und gedenken langfristig zu profitieren. Ihre Strategien sind auf lange Zeitläufe und gleichbleibende Gewinne angelegt, sie haben Zeit, und zu einem grossen Knall kommt es fast nie, so dass auch kaum etwas darüber zu berichten wäre – gäbe es nicht die Finanzkrise.
Denn der männliche Heiratsschwindler der Moderne sieht nicht nur so aus wie ein Anlageberater – er ist auch einer. Kaum hat er eingeheiratet, beginnt er an den Anlagen der Familie zu mäkeln, macht andere Vorschläge, die er in billigen Anlegerschundheften oder gar der FTD gefunden hat, verweist auf die höhere Rendite exotischer Fonds und lässt die Tochter stets wissen, dass seine Idee inzwischen schon enorm viel eingebracht hätte. Nach einer Weile wird der Druck so hoch, dass man ihm, um Ruhe zu haben, einfach einen Teil des Vermögens überlässt, das er anlegt und jeden Papiergewinn gleich in Realgeld wieder verpulvert. Das geht mal gut und mal schlecht aus, aber schwierig wird es erst, wenn das Geld wieder an anderer Stelle gebraucht wird, und die Welt in der aktuellen Finanzkrise steckt. Dann sind nicht nur die Scheingewinne verloren, sondern auch das eingesetzte Kapital. Verloren auch jedes böse Wort, denn die dumme Kuh von Tochter würde leiden, ginge man gegen den Nichtsnutz vor, der nebenbei auch die Steuerzahlung verschlampt hat.
Davon hört man gerade hie und da, aber mondän ist das alles nicht. Noch weniger mondän als jene Taktik, mit denen manche Gattin heute in die Familienschatullen greift: Nachdem die Urangst vor der Mitgiftjagd kleiner als die Angst vor der Steuer ist, und gerade auch die Erbschaftssteuer in absehbarer Zeit droht, weicht man oft, getrieben von klugen Freibetragsrechungen der Schwiegertochter, auf Schenkung zu Lebzeiten aus. Besonders geeignet sind hier dank nachlässiger Bewertung Immobilien, und so findet sich manche Schwiegertochter – gerade, wenn es auch um eine spätere Heimat der Enkel geht – als Mitbesitzerin grösserer Villenanlagen wieder. Will sie dann doch lieber auf Mallorca Modeschmuck verkaufen, und braucht sie dort ein Anwesen, fällt ihr ein, dass sie sich auszahlen lassen könnte – warum auch nicht, bleibt doch alles in der Familie. Nein, das ist wahrlich nicht die Blue Train nach Nizza, das ist klein, mies und kommt in den konservativsten Familien vor, die immer nur sparten und auf diese billige Art teuer bezahlen.
Auch heute noch machen diese Fälle die Runde, man hört davon und kann sich nur wundern: Die Täter sind allesamt eher langweilig und konventionell, ja nachgerade steif und konservativ, es gibt hier auch keine verruchten Künstler oder Lebedamen, zu denen sie das Geld tragen könnte. Es bleibt alles in den Familien, die Fassaden werden bewahrt, niemand erstattet Anzeige. Nur manchmal kommt es dann doch zur Scheidung, und beim zweiten Heiratsmarkt wird später sehr genau geprüft, wen man sich da in die Familie holt. Was im Übrigen aber nicht bedeutet, dass man sich beim neuen Anlauf an die amüsanteren Restbestände halten würde – noch mausgrauer und unscheinbarer sollte der neue Partner sein, denn offenkundig wurde auch der langweilige Erstbetrug von einer Person begangen, die nicht langweilig genug war.
Denn langweilig und gedämpft sind die besseren Kreise, wenn es um Beziehungen geht, und sollte doch jemand an Rattengift im Tee der Schwiegertochter denken, oder an eine Bremsenjustierung beim Schwiegersohn, dann sagen sie das nicht laut. Und tun es erst recht nicht. Die grossen Dramen und Gesten bleiben aus, man denkt an das Geld und beisst die Zähne zusammen, und nimmt sich vor, möglichst lange zu leben. Denn wie die Heiratsschwindler, so spielen auch die Beschwindelten auf Zeit. So ist das eben, wenn einer Klasse sogar im Betrug die Grandezza fehlt.
Begleitmusik: In den Zeiten von Ludwig XIV war das natürlich noch ganz anders, damals galt die Mitgiftjagd als edler Zeitvertreib und das Auslagern von Partnern als üblich. Die Sterblichkeit war hoch, die Mätressen hielt man sich aus Gewohnheit, und zu finden waren sie im Theater, wo etwa Ballete des berüchtigten Jean-Bapiste Lully aufgeführt wurden. Man darf allerdings davon ausgehen, dass jene vorzüglichen Musiker von La Risonanza, die einige Stücke aus dessen Werk bei Glossa eingespielt haben, heute natürlich sehr viel tugendhafter sind.