Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Meister und Sklaven der Zeit

Falls Sie genug Zeit haben, die kommenden 8099 Zeichen zu lesen und vier Bilder anzuschauen, geht es Ihnen sicher nicht so schlecht wie all den Leuten, die heute schon 0,17 Sekunden für relevant halten. Das ist fein für Sie, denn dann haben Sie Zeit, was heute nicht mehr selbstverständlich ist - auch wenn manche gerade diesen Mangel als Tugend anpreisen. Ich bin anderer Ansicht, also setzen Sie sich, nehmen Sie einen Tee, vielleicht wollen Sie ja auch mitplaudern? Bitte:

Stunden verwunden. Die Letzte tötet und heilt.
Gräfin Aurora von Königsmark

Die Apothekerstöchter bekamen zum Abitur eine Rolex, Damenmodell mit Weissgold, damit es nicht so auffällt. Ich durfte nach Amerika, kaufte mir ein Oldsmobile Delta 88, Baujahr 1973, candyrot mit weissem Dach, und machte zwischen San Francisco, Reno, der Mojavewüste und Los Angeles einiges, was heute mit Jugend und der Befreiung von schulischen Pflichten, und nicht unbedingt meiner Herkunft zu erklären ist. Am Ende hatte ich mich ausgetobt, zuviel von den USA und den real existierenden Eigenheiten gesehen, und war froh, als ich in Deutschland ankam. Den Wagen konnte ich nicht mitnehmen, aber in  Visalia, einem Kaff im kalifornischen Zentraltal, hatte ich mir das gekauft, was nach meiner Ansicht eine adäquate Uhr für den Schulabschluss war: Eine Gruen Curvex von 1938. Ein extremer – und damals extrem teurer – Entwurf des Art Deco, den man vielleicht aus der Zeit heraus erklären muss.

Bild zu: Meister und Sklaven der Zeit

Denn 1938 waren die Folgen der schweren Weltwirtschaftskrise zumindest in der Oberschicht so weit überwunden, dass man sich wieder etwas Besonderes und Ausgefallenes leisten konnte. 120 Dollar für eine Curvex klingt nicht nach einem hohen Preis, aber ein normaler Chevrolet kostete in jenen Tagen 700 Dollar. Der Optimismus war zurück, der Glaube an die technische Entwicklung und den Fortschritt, alles wurde grösser, schneller, schöner. Die Uhren, deren Zeiger diese Beschleunigung festhielten, änderten radikal ihre Form: Von der Taschenuhr aus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, die man noch behäbig aus der Westentasche ziehen und vielleicht sogar aufklappen musste, über runde Armbanduhren, die noch wie Taschenuhren gestaltet waren, hin zu eckigen, technisch wirkenden Formen der späten 20er Jahre, die mit dem Streamline Design wieder abgerundet, flacher und dem Arm angepasst wurden. Die Zeitmesser verliessen die körperferne Kleidung, fesselten sich an den Leib, und mit der Gruen Curvex, in der nicht nur die Form, sondern sogar das Werk gewölbt und dem Handgelenk angepasst war, stand die Uhr kurz davor, integraler Teil des Körpers zu werden: So stark schmiegte sie sich den menschlichen Linien an. Oder, in der Werbung, auch umgekehrt.

Natürlich müssen Uhren nicht aerodynamisch sein, und wie ein Flugzeug oder ein Auto im schnellen Kampf gegen die anstürmenden Luftmassen bestehen. Aber gerade weil die Form ohne Notwendigkeit die Erkenntnisse von Fliegen und Rasen, von Überbrückung weiter Strecken in möglichst kurzer Zeit aufzeigt, weil sie so schmal ist, dass immer ein Blick auf das Zifferblatt vor den Manschetten möglich ist, sagt sie auch viel über den Zeitbegriff des Besitzers aus: Zeit als omnipräsente Dimension, in der es gilt, möglichst viel zu erreichen.

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In den 71 Jahren zwischen der Entstehung meiner Gruen Curvex und dem Moment, da ich das hier schreibe, ist etwas im Zeitverständnis schief gelaufen.  Die Unruh einer mechanischen Uhr macht fünf Halbschwingungen pro Sekunde in ihren Lagern aus künstlichen Halbedelsteinen, also 2,5 Hertz. Der Prozessor in dem Rechner, auf dem Sie das hier lesen, ist so viel schneller, dass es Zeitverschwendung wäre auszurechnen, wie sehr die technische Geschwindigkeit zugenommen hat. Aber auch nach 71 Jahren läuft die Curvex korrekt mit ihren 5 Halbschwingungen – in meinem Umfeld dagegen, bestehend aus arbeitenden Kindern besserer Familien, grassiert die Zeitnot und die Erschöpfung. Sie schaffen es im Gegensatz zu den Prozessoren nicht, immer noch mehr Vorgänge in die verfügbare Zeit zu stopfen. Sie müssen dazu auch nicht auf die Uhr schauen, denn die Uhr ist unten in der Statuszeile des Rechners. Und bei jedem Arbeitsschritt wird dokumentiert, wann die Dokumente erstellt wurden, oft auch der Ort und die Dauer. Jede Schwingung einer Unruh durchrast die Zukunft und hinterlässt Vergangenheit, die bestenfalls Erinnerung und Erfahrung wird. Die Uhren in den Rechnern hinterlassen eine “History”. Und die vergeht nicht, sondern stellt Ansprüche an die Gegenwart.

Eine Bekannte ist das, was man vielleicht als “Millionenerbin” bezeichnen kann. Sie arbeitet im mittleren Management einer Bank. Ihre Eltern, deren einzige Tochter sie ist, hätten an einem oberbayerischen See ein paar tausend Quadratmeter Baugrund und genug Geld, darauf ein paar Villen zu errichten. So hatten sie sich das Leben ihrer Tochter auch vorgestellt: Das Grundstück aufteilen, drei Villen bauen, zwei verkaufen und ausgesorgt haben, vielleicht jemanden heiraten, der nicht Mitgiftjäger ist. Statt dessen versucht sie, so viel Arbeit wie möglich in die kleinen Zeittakte der Firma zu stecken. Wenn sie es aufgrund all der kleinen, omnipräsenten Zeitfresser wie Mobiltelefon, Blackberry und Notebook nicht schafft, die Zeittakte genug dicht zu füllen, schafft sie sich Neue: Obwohl in ihrer Abteilung Überstunden als Regel angesehen werden, geht sie, wenn sie zu viele Stunden auf dem Konto hat, mit einem Kollegen vor die Tür, trägt sich mit der Karte aus und geht mit ihm wieder hinein, um das zu machen, was nicht an ihrem Rechner getan werden muss. Der wird von der Firma überwacht. Es darf dort keine Zeiteinheit, keine Millisekunde Arbeit hineingestopft werden, wenn sie laut Karte abgemeldet ist. Sie hat panische Angst, dass irgendwann die Überwachung verbessert wird, weil sie nicht weiss, wie sie dann noch die Arbeit in die verfügbaren Zeiteinheiten stopfen soll. Sie hat eine Jaeger LeCoultre Reverso. Diese Uhr kann man umdrehen, um das Glas zu schützen. Entwickelt wurde die Uhr für das Polospiel, aber sie wirkt auch in den Momenten, da einen die Zeit auffrisst.

Bild zu: Meister und Sklaven der Zeit*

Es gibt natürlich auch Beschleuniger für Menschen, Zigaretten, Ritalin, Kokain, Wachhalter. Es gibt Teams, die einen mitziehen, und den Druck, den man bekommt, wenn man ihn sich nicht selbst macht. Es gibt Firmen, die ihr Geschäftsmodell auf der Selbstvergewisserung solcher Existenzen aufbauen, es gibt Blogs und Twitter, bei denen die Arbeitsakkorde und Fortschritte dokumentiert und der Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht werden, um aus dem menschlichen Elend eine schicke Fassade zu verpassen. Alle Redakteure der “Welt Kompakt” wurden zum twittern verdonnert. Auf die Frage “Was tust Du gerade” wird nicht mit dem angemessenen “Das geht Sie nichts an” oder “Wurden wir uns schon vorgestellt”, sondern mit möglichst vielen, präzisen und zeitnahen Informationen geantwortet. Und weil das Alte niedergelegt und dokumentiert ist, kann man sofort das Neue nachschieben. Komplexe Gedanken, auf einander aufbauende Geschichten, Vertiefung, Fabulieren, Abschweifen, das alles ist unter diesem Druck kontraproduktiv. Es gibt dafür keine Zeitkästchen.

Irgendwann in den letzten 71 Jahren hat sich der dynamische Geist der Gruen Curvex durch den Gehäuseboden aus Gold geätzt, ist in die Blutbahn gelangt, und hat im Gehirn der Menschen jene Beschleunigung durchgesetzt, gegen die sich das Werk der Corvex mit ihren 2,5 Hertz seit 71 Jahren sperrt. Weil die Unruh mit einer Hemmung die Energie der Feder des Aufzugmechanismus kontrolliert abgibt. Die Hemmung, jener kleine Hammer mit Rubinköpfen, erlaubt es der Unruh, die kontrollierte Herrin der Federkraft und damit auch der Zeit zu sein. Für mich ist es immer ein gutes Zeichen, wenn die Uhr ab und zu abgelaufen ist, und ich das erst nach ein paar Stunden bemerke; meine eigene Hemmung gegen die Zeit und ihr Diktat funktioniert also noch.

Bild zu: Meister und Sklaven der Zeit

Das ändert allerdings nichts am Paradigmenwechsel, der allgemein unter der sogenannten Leistungselite, oder Entscheider, oder der Besserverdiener von Morgen stattgefunden hat. Ein Autor der FAZ geht an den See, betrachtet ein paar Frauen beim Picnic und macht sich einen Tag lang solche Gedanken. Die Welt Kompakt wurde dazwischen schon 31 mal getwittert: “0,17 Seconds”, teilt mir der Dienst mit, habe meine Suchabfrage gedauert. 0,17 Sekunden, eine Zeitangabe, die alles über den Zeitbegriff dieser Leute sagt. Sie sind schnell, so schnell, dass sie das brauchen, und es folglich nicht haben. Niemand, für den das eine relevante Grösse ist, kann selbst relevant sein.

Es war auch heute am See ausgesprochen schön.

*Die Abbildung zeigt aus Gründen der besseren Sichtbarkeit nicht das von Platinen verborgene Caliber 330 der Gruen Curvex, sondern das offenliegende Werk einer Gruen Verithin von 1948.