Hochkultur ist Stadtkultur.
Oswald Spengler
Es ist sicher nicht schlecht, zu diesem Beitrag auch jenen zu lesen, auf dem er lose begründet ist.
Wenn es die Eltern dann geschafft haben, an den See zu ziehen, bleiben sie in aller Regel auch für immer, oder zumindest bis zur Seniorenresident dort. Diese Unterscheidung aufzuheben machen sich Seniorenresidenzen am See anheischig, so dass niemand im Alter auf die gewohnte Trennung von gewöhnlichen Leuten und Krankenkassenpatienten verzichten muss. Man kann, man soll einen alten Baum nicht mehr verpflanzen, und von Urlauben abgesehen, werden alte Menschen einfach unbeweglich. Beim Nachwuchs, bei den Kindern, sieht das natürlich anders aus. Die müssen weg von den Seevierteln, denn die demokratische Masseneinrichtung “Universität” ist fern jedes Gewässers, und zumeist in der grossen Stadt. In Bayern gilt es in Westvierteln als unvorstellbar, die Kindern nicht studieren zu lassen. Daraufhin zielen alle Bemühungen der Mütter und der schulischen Leistungsdoper, deren Insitute gerne leise empfohlen, aber nicht laut angegeben werden: Wenn auch nicht so schlimm wie ein Realschulabschluss, ist die Notwendigkeit von Nachhilfe immer noch ein Makel. Aber irgendwie schafft es am Ende doch ein jeder an die Hochschulen.
Und in die grossen Städte. Weg von den goldenen Küsten, weg vom Umfeld, wo alle ungefähr gleich sind, gleiche Eltern, Lebensentwürfe, Ideologien, Lebenspläne, weg von der Hegemonie der Bessergestellten mit ihren klaren Regeln, die gar nicht so schwer zu befolgen sind, wenn man es nicht anders kennt. Weg auch von den gemeinsamen Erfahrungen, wie etwa: Immer einen See vor der Haustür zu haben, verlässliche soziale Strukturen, mit jedem reden zu können, ohne Gefahr zu laufen, an Menschen zu geraten, die nicht angemessen sind. In Seevierteln gibt es einfach keine Möglichkeit, eine Vielzahl von Fehlern zu begehen, und was man mangels Existenz erst gar nicht kennt, wird auch nicht zur Versuchung.
Das natürlich ändert sich in den Städten. Nicht nur, dass mit dem Wegzug die Sozialkontrolle der Seegesellschaften mit einem Schlag auf das Reinigen der Wäsche reduziert wird, wo sich Frau Mama allenfalls über die nachlässige Kleidung echauffieren kann. Nicht nur, dass, von ein paar sog. “Elite”-Instituten in elenden Käffern wie St. Gallen oder Ingolstadt abgesehen, die Studienorte bei der Herkunft ihrer Studierenden für heftige soziale Durchmischung sorgen. Die mehr oder minder intakte Abschottung der Seeviertel gegen den Rest spielt in der Stadt keine Rolle mehr. Das zu akzeptieren fällt besseren Familien schon in Momenten nicht leicht, da der Nachwuchs noch nicht begriffen hat, wie wichtig das für sein weiteres Leben sein wird. Und hier beginnt die Gentrifizierung.
Denn in den Seevierteln wäre es undenkbar, den Kindern in einem schlechten Viertel eine Wohnung zu mieten oder zu kaufen. Traditionell passiert das, was schon in Sachen Tanzschule und Fahrschule üblich war: Man hört sich zuerst bei den Nachbarn um, fällt aus der Ferne erste Todesurteile – das als “Nordschwabing” angepriesene Freimann etwa geht gar nicht – und begibt sich für die Kinder auf die Suche nach angemessenem Wohnraum. In Zeiten der Zeitungsanzeige lautete das so: “Chefarzt/Unternehmer/Notar/Manager sucht für Sohn/Tochter Wohnung in Stadt X, in Uninähe bis ziemlich heftiger Höchstpreis, der den Kindern normaler Leute die Sprache verschlägt”. So einfach ist es, bevorzugt zu werden. So einfach ist es, Wertschätzung zu erfahren, selbst wenn man danach feilscht und Anbieter gegeneinander ausspielt, um am Ende nicht mehr als andere zu zahlen. Aber ein Arzt, sagt man sich in Immobilienkreisen, ist eben ein Arzt.
Vielleicht ist es der soziale Druck der Seeviertel, der keine andere Alternative zulässt, weil man sonst als jemand gälte, der nicht mal seinen Kindern eine anständige Wohnung leisten kann. Vielleicht ist es rein rationale Überlegung, nur die besten Lagen zu erwerben, um sie später mit Gewinn wieder zu verkaufen. Vielleicht ist es auch Kalkül, die Seeviertel möglichst geschlossen in die Städte einzupflanzen und das Kind von drogenverseuchten, dauerbetrunkenen Nachbarn – man sieht das ja oft im Fernsehen – fernzuhalten. Vielleicht spielt das alles eine Rolle, vielleicht aber ist es auch nur eine nicht hinterfragte Folklore – jedenfalls wohnten die meisten meiner Bekannten aus dem Seeviertel in München dann entweder im südlichen Schwabing oder an der Isar. Nur die Tochter eines Apothekers musste in ein katholisches Wohnheim ohne Männerempfang – zu wichtig war den Eltern die Tugend der Tochter. Fuhren wir des Morgens um 6 Uhr von den Diskotheken heim und an jener Anstalt vorbei, schüttelten wir die Köpfe und sagten, dass diese Apothekerfamilie – also, das geht einfach nicht. Und beschwerten uns am Wochenende in den Seevierteln bei unseren Eltern, sie möchten doch bitte auf den Apotheker einwirken… die Apothekertochter war sehr schön, und wir waren in unseren Vorurteilen und Eigentumswohnungen nicht sehr selbstlos.
Wohnungen, die oft genug gemietet gekauft und dann mit einer Überweisung an den Mieter schnell entmietet wurden. Man liest ja oft über abgedrehte Heizung und ausgetauschte Schlösser: Die Normalität der Gentrifizierung nach meinem Erleben war das Bestechungshandwerk, die drei erlassenen Monatsmieten, und der Verzicht auf die Renovierung, weil Papa ohnehin stets bestrebt war, die Wohnung auf seetaugliche Verhältnisse zu bringen. So entstehen ganze Strassenzüge, in denen alle Gleichaltrigen in etwa die gleichen Lebenserfahrungen haben, weil ohne sie ein Leben hier nicht bezahlbar wäre; das Seeviertel wird vertikal zusammengeschoben und in alle freiwerdenden Strukturen gepresst, wo andere keinen Platz mehr finden, und es geschieht, bevor man als Begünstigter überhaupt begreift, dass man mehr als eine neue Wohnung, sondern einen alten, fortgesetzten Lebensraum bekommt. Man macht sich darüber allerdings auch kaum Gedanken, denn man hat nach den Jahren am See erst mal die Jahre in der Stadt nachzuholen.
Später kennt man es auch gar nicht anders. Die Ansprüche steigen, die Wohnungen werden zu klein, zurück an den See zu gehen, kann man sich aus diversen Gründen aber auch nicht vorstellen. In den normalen Vorstädten jedoch wohnen nur normale Leute, man hat den Nachteil des schlechten sozialen Umfeldes zusammen mit dem Nachteil der Innenstadtferne, und so vermünchnern überall die Innenstädte. Die vier bis fünf Zimmer Altbau mit Stuck und Parkett werden das Mass aller Dinge, für die Restaurierung bekommt man die Telefonnummer von Polen, und die bisherigen Mieter sind, sagt man sich, vielleicht in einem Neubau besser aufgehoben, bevor sie weiterhin die historische Bausubstanz mit ihrer Anwesenheit schädigen. Man lernt diese Argumente in den Seevierteln wie das Atmen und die Abgrenzung. Und was man in der Stadt möchte, ist nicht die Wiedereingliederung in die Gesellschaft, aus der die Eltern und Grosseltern an die Seen geflohen sind – man möchte das Seeviertel mit all seinen Sicherheiten in der Stadt neu errichten.
Von dieser Einstellung, die zu hinterfragen Fassungslosigkeit erzeugen würde – wieso, Schneck, willst Du bei Hartz-IV-Empfängern leben? Sei doch froh! – von dieser Einstellung leben die Projektentwickler und Erben alter, maroder Haussubstanz, es leben davon die Townhousevermarkter und, zumindest versuchen sie es, die Städte, die eine Abwanderung der Reichen in die Speckgürtel verhindern möchten. Es leben davon auch die vom Ende der Ideologien gebeutelten und zur Werbefigur verkommenen Autonomen, die das nicht gut finden und mit zunehmender Intensität Fahrzeuge demolieren, und dabei sogar in der Finsternis Opel mit Autos verwechseln. Es wird das weitergeführt, was am See erlernt wurde, und so entstehen Städte in der Stadt, durch den Druck der verdrängten Umwelt überwacht, abgeschottet und besonders gut von der Polizei kontrolliert, oder gerne auch dem privaten Sicherheitsdienst. Solange jedenfalls, bis die jungen Leute auch alt werden und wieder die Reize der Seen entdecken, wo es ja noch ein Haus auf die Vererbung wartet. Solange aber rottet sich die Quintessenz der Seeanwohner in kleinen Vierteln zusammen und wundert sich, wundert sich wirklich, warum man sie dort nicht einfach in der Ruhe leben lässt, die sie vom See kennen, und warum man ihre Autos verkratzt, wenn sie doch sozial zuträglich dem Feinkosthändler, dem Antiquitätenladen und so vielen Polen draussen vor der Stadt in den Unterkünften den Lebensunterhalt sichern.