Bessa an Mogn varengt, ois am Wirt wos gschenkt.
Bayerische Volksweisheit
Bei einem Beitrag, dem naturgemäss viele höfliche Lügen der besseren Gesellschaft innewohnen, kann es nicht ganz unrecht sein, zuerst einmal die Wahrheit zu berichten: Die Wahrheit nämlich, dass der besseren Gesellschaft die Vorstellung, aus Anstand Essen übrig und wegwerfen zu lassen, zutiefst zuwider ist. Die Wahrheit sieht so aus wie in den 70er Jahren, als die kleine, dumme Stadt an der Donau noch kleiner und dümmer war und so unerträglich, wie es die besseren Viertel von Berlin bis heute sind. Damals war man auch noch ärmer, der grosse Geldsegen hatte noch nicht eingesetzt, und nur die wenigsten konnten damals für ein Wochenende an den Gardasee oder für ein Abendessen nach Paris. Am Wochenende fuhren Reich und Arm gleichermassen in den Jura, und bei allen genoss ein bestimmtes Lokal im Schambachtal mit dem schönen, altdeutschen Namen “Die Linde” grösste Popularität für die Qualität und die Menge des dortigen Essens.
Es war die Zeit, als die Sossen noch sahneschwer und die Seniorenportionen noch so unbekannt waren wie das wahre Ausmass der Hypo Alpe Adria-Verluste, man sass zusammen und schaufelte in sich hinein, was möglich war, und den Rest packten alle, ohne Unterschied von Rang und Ansehen, in Servietten und nahmen ihn mit. Ich glaube, das hatte mit den Kriegs- und Hungererfahrungen zu tun: Als ich mich zum Vegetarier wandelte, betonte meine Grossmutter protestierend, dass es in meiner Familie immer Fleisch gegeben hätte, und ich nicht mit der Tradition brechen dürfte. Jeden Tag Fleisch zu haben war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch ein Zeichen von Luxus uns Überfluss. Ich glaube, die Menschen, die die schlechte Zeit von 1914 bis 1950 miterlebt hatten und wirklich wussten, was Hunger ist, konnten einfach nicht anders, als das Essen vor dem Müll zu bewahren.
Insofern gibt es das “Anstandsstück” als realen, dem Wegwerfen überantworteten Überfluss nicht in jenen Kreisen, aus denen ich zu stammen das Vergnügen habe. Das “Anstandsstück” ist kein realer Gegenstand, sondern nur eine Konvention, die so heisst, aber kein Wegwerfen zur Folge hat. Niemand würde ernsthaft ein auf dem Teller verbliebenes Stück Kuchen in den Müll befördern. Und eigentlich, selbst wenn es üblich ist, das letzte Stück nicht anzufassen, selbst wenn wir alle gelernt haben, dass es verboten ist, das zu tun – eigentlich ist die pure Existenz eines Anstandsstücks in unseren Zeiten auch ein leichter Vorwurf gegen den Gastgeber: Dass er sich offensichtlich nicht genug leisten konnte, um alle zu sättigen.
Kurz, die Anstandsstückerziehung besteht aus zwei Teilen, einem kurzen und einem langen Teil. Kurz: Stelle immer genug hin, damit keiner hungrig nach Hause gehen muss, und immer noch etwas übrig bleibt. Lang: Nimm immer nur das, was man Dir reicht, verlange nur auf Nachfrage mehr, beleidige den Gastgeber nicht durch unverschämtes Fordern. Wenn am Ende nur ein Stück für mehrere Gäste übrig ist, wehre Dich, es zu nehmen, und wenn Du es unbedingt willst, wehre Dich einfach weniger als die anderen. Verlange es nicht, lass es Dir sanft aufdrängen, opfere Dich, es zu essen. Entscheidend ist, dass man selbst nicht als gierig und der Gastgeber nicht als geizig erscheinen kann, und diese Balance zu wahren, ist hohe Kunst –
auf die niemand wirklich niemand mehr Lust hat, entstammen diese Regeln doch einer Zeit, in der nicht überall Essen grenzenlos verfügbar und die Zubereitung erheblich zeitraubender war. Das Anstandsstück erlaubte es unter diesen Umständen Gästen zu sagen: Danke, es war mehr da, als ich essen konnte – auch wenn es gelogen war. Und den Gastgebern: Bitte, wir hätten noch sehr viel mehr auffahren können – auch wenn es genau so gelogen war. Als besserer Gastgeber vollzieht man heute dagegen in aller Regel den anstandsstückvermeidenden Vernichtungserstschlag: Mehr als drei Stück Sahnetorte überlebt auch die beste Erbtante nicht, also nimmt man vier Stück und belästigt noch drei Tage nach der Einladung alle Verwandten mit Bergen von im Kühlschrank vor sich hin rottenden Kalorienbomben. Auch wenn dieser Trick faul wie die Bilanz der Hypo Alpe Adria ist, so sieht es für den flüchtigen Besucher so proper und gesund wie 2007er Lehman Zertifikate aus.
Das rechte Mass sähe natürlich anders aus, aber wer schon einmal Mitglied einer schulischen AG Literatur war, die im Sommer von Familiengarten zu Familiengarten durchgereicht und zunehmend überfüllt wurde, weiss, dass alles davon profitieren: Die Konditoren und gern backenden Tanten, der untadelige Ruf der Gastgeber, die besuchenden Kinder, die Mütter, die endlich einmal das Service für 24 Personen auffahren können, und später einmal auch Ernährungsberater und Ärzte. Weil das jedoch so ist, kommt in aller Verschwendung das Anstandsstück, das man exterminiert zu haben glaubte, durch die Hintertür zurück:
Als jenes einzige Anstandsstück, das Gäste nehmen, um den Gastgeber nicht zu enttäuschen. Seitdem selbst gestandene Mannbilder wie der Autor dieser Zeilen mit Kleidergrösse 50 gerne jammern, dass sie zu dick sind und nach jeder Torte auf den nächsten Berg rennen, gilt in den besseren Kreisen Fett als höchst unschick. Mögen alte Tanten noch Tortenberge auffahren, so bringen jüngere Mütter ihren Kindern nicht mehr bei, bis zum letzten Stück auf der Tafel zu essen und dann innezuhalten. Als richtige Lehre gilt: Ein Stück reicht. Mutter nimmt ja auch nicht mehr. Nicht mehr der Überfluss wird demonstriert, nicht mehr die finanzielle Leistungsfähigkeit und das Fett, das der finanziellen Sorglosigkeit entspricht, sondern die körperliche Fitness. Die Chinesen im globalen Wettbewerb sind ja auch so dürr. Da muss das Kind mithalten. Bessere Kinder können jede Nachhilfe und jeden leistungsfördernden Pillencocktail bekommen, um das Abitur zu erreichen, aber eben nur ein Anstandsstück.
Ob das so viel ehrlicher ist, als die früheren Ansätze, möchte ich hier zu bezweifeln wagen. Was durch die neuen Anstandsstücke demonstriert wird, ist auch eine Form der Überlegenheit, bei der es nicht leicht fällt, den Gedanken an den Körperkult totalitärer Systeme beiseite zu schieben. Es ist sicher kein Zufall, dass die neuen Anstandsstücke der besseren Klassen zeitlich mit Radikalmethoden wie Fettabsaugen für jene zusammenfallen, die den Idealen nicht entsprechen. In Zeiten, in denen sich jeder alles leisten kann, entwickelt sich die Fähigkeit zur Entsagung zur unausgesprochenen gesellschaftlichen Forderung, die über den Tischen schwebt.
Und nicht immer verstanden wird. Der Krieg zwischen den Wegduckern nach dem ersten Stück und den Vernichtungsschlaganhängern, zwischen jungen Müttern und alten Tanten, wird mit äusserster Brutalität geführt. “Also ICH nehme jetzt jedenfalls noch ein Stück” ist noch die kleinste Munition im Kampf um die Systemherrschaft, Drohungen wie “Was ihr jetzt nicht esst, müsst Ihr aber unbedingt mitnehmen, die Torte ist vom Wagner, solche schönen Stücke gibt es bei Euch doch gar nicht” sind an der Tagesordnung, und mit einem “Aber natürlich will Theodor noch ein Stück, gell, hier nimm” werden handstreichartig Fakten geschaffen. Noch.
Aber diese Generation, die Not noch kannte und Anstandsstücke als Kind wehmütig betrachtete, stirbt überzuckert aus, geht dahin durch Leberkrebs und Kunstfehler beim Faltenstraffen. Daheim erleben es Theodor und Ann-Marie ganz anders, frei von zwölflagigen Tegernseetorten und Blechen voller Zwetschgendatschi, nicht mal als Belohnung für den Chinesischkurs im Kindergarten. Nicht auszuschliessen jedoch ist, dass damit wieder ein Automatismus in die andere Richtung einsetzt, und sie zwischen ihrer Mütter Tradition und eigener Moderne neue Lügen erfinden werden, die Fitness nicht negiert und überbordende Tische trotzdem erlaubt. Schon immer hat es diese Klasse verstanden, sich Widersprechendes in sich zu vereinen, und wenn schon die Torte und das Anstandsstück keine Konstante im Leben der besseren Kreise mehr sind, so bleibt am Ende wenigstens die Doppelmoral erhalten. Hauptsache, man hat mehr als andere.