Aber gegen Abend kam er dann mit einem wirklich sehr, sehr schönen Brilliantarmband, und das munterte mich richtig auf.
Anita Loos, Blondinen bevorzugt
Sollte dereinst jemand die Geschichte der grossen zweiten Depression von 2007 bis 2012 schreiben, so wird sicher eines der köstlichsten Kapitel jenes sein, das sich mit den weniger schlauen Vorhersagen schlauer Leute beschäftigt. Ex post, mit einem Abstand von zwei, drei Dekaden, ist man nicht nur klüger, sondern auch in der Lage, über all das Ungemach zu lachen; der Staub der Verdrängung wird sich über alte Behauptungen gelegt haben, und man wird sich an die Krise erinnern wie an jenen Tag, da Anne-Amelie nur vier Wochen nach ihrer Hochzeit unter Missachtung aller gesellschaftlichen Normen mit diesem argentinischen Scheckbetrüger durchbrannte: Da war was los, da ging es rund, da hat man auch etwas den Glauben verloren, aber alles kehrte in geordnete Bahnen zurück, später warfen die Anlagen wieder Renditen und Anne-Amelie die Julia, na ja, Schwamm drüber, über Geld und ausserehelichen Nachwuchs redet man nicht, das besorgen schon die Nachbarn.
Der Umstand, dass man auch in 20 Jahren mit der Vernunftehe das Äquivalent zur islamischen Zwangsehe einfädelt und finanziell weiterhin bestimmt, wie es weitergeht, weil man zu jenen 20% gehört, denen 80% des Landes gehört, dieser eigentlich sehr angenehme Umstand ist im Kern dem Vollversagen zweier irrigen Thesen zu verdanken, die 2009 von den westdeutschen Westvierteln eindrucksvoll widerlegt wurden. Da ist zuerst einmal die in Deutschland oft ventilierte These, die Krise würde für eine massive Angleichung von Ost und West, von noch strukturstarken und industriell bereits abgewrackten Gebieten sorgen. Mit dem Niedergang der Exporte würden die industriellen Zentren schwere Rückschläge erleiden, die man andernorts bereits hinter sich und Alternativen in Dienstleistungssektoren entwickelt habe – Berlin etwa sei mit seinen Lebenskünstlern und niedrigen Preisen weitaus besser für die Krise vorbereitet, als die bisherigen Leistungszentren mit ihren Immobilienblasen und überzogenen Lebenshaltungskosten, die sich in der Krise keiner mehr leisten könnte. Für den besseren Westen werde der Absturz deshalb sehr viel härter ausfallen.
Solche Überlegungen träufelten Gift in die besseren Gesellschaftsseelen an exakt jenen Stellen, da sie verwundbar sind: Beim Immobilienbesitz, bei den Geldanlagen, beim – der Theorie zufolge irrigen – Annahme, Export wäre sicher und Dienstleistung ein Sammelbecken parasitärer Elemente, die erst mal richtig arbeiten sollten. Das Szenario erinnerte trefflich an das Grosse Welttheater des barocken Dichters Calderon de la Barca, in dem der Reiche vor dem Tod vergeblich um seinen Besitz fleht und der Bettler entspannt der jenseitigen Welt harrt.
Nun haben wir aber alle überlebt, und die Unterschiede zwischen Arm und Reich in diesem Land sind so grotesk wie eh und je: Für den Preis von 20 Quadratmeter Wohnfläche direkt am Tegernsee, errechne ich aus Angeboten eines Miesbacher Werbeblättchens, bekäme ich rund 12000 Quadratmeter Grund an einem See in Mecklenburg mit kleinem Haus. Die Flucht in sichere Anlagen hat die Preise für bessere Wohnlagen in besseren Städten des Westens steigen lassen, nichts findet man dort, während in Berlin die Luxuswohnprojekte reihenweise gestoppt wurden, und Geierfonds auf der Suche nach billiger Beute über den Baugruben kreisen. Die Krise hat den Export schwer getroffen, aber viele andere Faktoren – Bildung, Qualifikation, geringe Verschuldung und ganz simpel, enormer Reichtum und die Existenz einer vermögende Mittelschicht, die den Reichtum der besseren Kreise nährt – sind ebenfalls wichtig. Sogar das Gejammer wegen der Kursverluste von Anlagen ist verstummt. Die meisten haben genug, um die Probleme einfach auszusitzen.
Das erschiene vielleicht anders, wenn die zweite Theorie richtig gewesen wäre und zu lange die Anlagen belastet hätte; jene These, die da lautete “First in first out”: Die Länder, die zuerst in die Krise gerieten, würden sie auch als erste hinter sich lassen; die von ihnen in den Morast des Niedergangs nachgezogenen Länder würden länger darin verharren. Während ich das hier schreibe, wurden in den USA wieder mal 6 Banken unter Zwangsveraltung gestellt, mit rund 2 Milliarden Dollar Schaden für die Einlagensicherung. England, Spanien, das Baltikum und der Balkan, Grossbritannien und Russland strampeln nun schon seit Jahren durch die schwerste Rezession seit Jahrzehnten, und müssten die Westviertel der Theorie zu Folge inzwischen auch nach sich gezogen haben. Westviertel, in denen immer noch die Nachwirkungen des Grauen Kapitalmarktes aus der Zeit bis 2007 – Schiffsfonds, Ostimmobilien, angeblich absolut sicherer Return aus Filminvestments – den eigentlichen Anlass zur Klage liefern. Aber nicht diese obskure Krise, die es wohl irgendwo gibt, aber nicht hier.
Angesichts dessen, was andernorts zur Dämpfung der Krise getan wird, ist das Krisenmanagement der Westviertel lächerlich einfach: Abwarten, Tee trinken, vielleicht etwas Geld in eine Immobilie umschichten, etwas grundlos jammern, Kerzen für 80 Euro kaufen und Angst vor der Inflation haben. Grosso modo: Nichts tun und gerade dadurch überleben. Es widerstrebt vielleicht einem obskuren Gerechtigkeitsgefühl, dass in all den Stürmen neben den Bankern auch manche eher Unschuldige einfach so weiter machen können, als wäre nichts passiert, aber von allen Ländern scheint Deutschland mit am besten die Bedrohungen zu meistern, und das vor allem in jenen Zentren, die den wirtschaftlichen Kern ausmachen, jenen zugunsten, die hier in den Westvierteln leben.
Und nachdem gemeinhin jene Bereiche und Regionen am schnellsten vom Aufschwung profitieren, die nur geringe Substanzverluste hinnehmen mussten, bleibt es hier vermutlich auch bei einer kleinen Delle im Selbstbewusstsein und in den als selbstverständlich betrachteten Gewinnen. Sonst passiert nichts. Warum auch. Die Abstände bleiben gewahrt, und man bleibt unter sich.
Abgesehen von jenen Regionen im Osten, die von 1945 bis 1989 keine Westviertel haben durften, überlebt die deutsche bessere Gesellschaft nun schon seit 1813 eine Krise nach der nächsten. Sie überlebt die Krisen nie mit Anstand und Mut, oder gar mit Hingabe und Leidenschaft. Sie ist im Überleben opportunistisch, kleinlich, verzagt, sie hat Ängste und Träume banalster Natur. Ihre Kernkompetenzen sind Überleben und die Bewahrung des Besitzes, das kann sie perfekt, das hat sie durch Zusammenbrüche, Völkermord und fast alle Arten von politischen Systemen bewiesen. Manche fallen heraus und andere steigen auf, es ändern sich die Sitten und die Individuen sterben, aber das Kollektiv bleibt bestehen. Eine ganz erstaunliche Beharrungsleistung angesichts des lemmingesken Fortschrittsfetischismus zwischen New York, Berlin, Internethandel und Echtzeit-Dauerkommunikation, der mit immer grösserer Geschindigkeit immer grössere Blasen aufpustet, und jene verlacht, die einfach am See ihre Ruhe haben wollen. Bitte nicht wundern, wen man dort ab und an zurücklächelt, ohne das vielleicht angemessene Bedauern, wenn es für die anderen mal wieder kalt und schlimm wird.