Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Hilfreiche Sekundäruntugenden I: Diskriminieren in besseren Kreisen

Es ist mir stets ein Rätsel, was andere in anderen Klassen zu finden erwarten. Es ist überall gleich langweilig, es gibt überall die gleichen kleinlichen Vorurteile, und wer keine finanziellen Probleme hat, macht sich bei Bedarf eben andere. Allerorten sucht man nach Gründen, sich abzuschotten und sich "besser" zu fühlen. Wer immer meint, darin ein Ziel zu erkennen, erkennt damit nur Vorurteile und Diskriminierung an. Und sollte sich nicht wundern, wenn er selbst als Erster davon betroffen ist.

Think of all the fun I’ve missed, think of all the fellas that I haven’t kissed.
Eartha Kitt, Santa Baby

(Bitte diesen und die beiden folgenden Beiträge cum grano salis lesen. Danke) Es gibt Dinge, die man in der besseren Gesellschaft tut: Man sagt Bitte und Danke, man wartet, bis man gefragt wird, man fällt anderen nicht ins Wort, man achtet die Älteren und spendet zu Weihnachten. Das sind die Tugenden. Und es gibt Dinge, die man keinesfalls tut: Man geht nicht ins Bordell, man säuft nicht, man nimmt keine Drogen, man spreizt nicht die Ellbogen bei Tisch ab, man fährt keinen Opel, man hinterlässt keine unehelichen Kinder und Spielschulden. Das sind die Untugenden. Über die spricht man auch nicht.

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Neben Tugenden und Untugenden gibt es aber auch noch Sekundärtugenden, die man tut, ohne darüber zu sprechen. Kuppelei auf dem zweiten Heiratsmarkt zum Beispiel. Die richtige Qualität kaufen. Beziehungen spielen lassen. Es passiert, aber es wird einem – im Gegensatz zu den Tugenden – nicht explizit beigebracht. Und dann gibt es auch noch Sekundäruntugenden, die man ebenfalls tut, und über die man nicht redet. Diese Sekundäruntugenden sind delikat, weil sie zwar gewöhnlich und in allen Schichten der Gesellschaft anzutreffen sind, in besseren Kreisen aber anders gehandhabt werden. Gerade zu Weihnachten und Neujahr jedoch werden sie genutzt, denn in dieser Zeit kommt man mehr als sonst unter Menschen, die man nicht einschätzen kann. Mir beispielsweise passierte es einmal, dass ich bei einer Feier neben einer hochrangigen Mitarbeiterin des Bayerischen Rundfunks sass.

Und diese Dame nun, die gar nicht genug mit führenden bayerischen Politikern in Flugzeugen zu weltbewegenden Augenblicken der bayerischen Geschichte unterwegs sein konnte, diese stets devote Fragenstellerin mit implizierten Antworten, die so nur in China, in Nordkorea, im kongolesischen Staatsfernsehen und eben in Bayern über den Äther gehen, war hier plötzlich gar nicht mehr devot. Die Feier fand in einem guten Restaurant nahe des bayerischen Landtags statt; gut, und selbst wenn es nicht gut gewesen wäre, würde man als Gast schweigen, aber offensichtlich nicht gut genug für die Journalistin. Diese Dame, die, vorsichtig gesagt, nicht eben mit dem Silberlöffel im Mund auf die Welt gekommen, sondern eher auf der Brennsuppe dahergeschwommen ist, wusste alles zu bemäkeln. Raunzte den Kellner an, stocherte missmutig im Essen und begann nach der Vorspeise in diesem teilweise doch gehobenen Rahmen mit dem Diskriminieren.

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Nun ist die Diskriminierung exakt eine jener Sekundäruntugenden, die das granitharte Fundament jeder Klassengrenze bilden. Jeder, der nur ein paar Sekunden über das Thema nachdenkt, wird begreifen, dass es aufgrund der Verschiedenheit der Menschen gar keine Klassengrenzen geben kann, denn die Übergänge vom bildungsfernen Schläger vor der Rütlischule und Derivatezocker über den Werber, den Journalisten, den Politiker, den Pharmalobbyisten, den Arbeiter, den Bäckermeister bishin zu der sog. Besseren Gesellschaft sind volatil und fliessend. Gerade diese Indifferenz aber schreit nach Diskriminierung, einer Grenzziehung, die in ihrer Irrationalität um so wirkungsvoller ist, je willkürlicher sie getroffen ist. Der Altamerikaner musste möglichst gross durchbohrte Ohren haben, der Papst musste alle Gegner exkommunizieren, und wer oben mitspielen will, braucht nicht nur totale Übereinstimmung bei Manieren und Ansichten, sondern auch einen Begriff davon, was man Rausdiskrimieren möchte.

Und hier machte die Journalistin den entscheidenden Fehler. Geboren jenseits der Westviertel, aber mit einem enormen Drang, anerkannt und akzeptiert zu werden, diskriminierte sie die Falschen: Die Bedienung, ihre Untergebenen, Dienstleister, Menschen, die von ihr abhängig waren, und über die sie sich erhöhen wollte. Typisch für Neureiche und deren Unfähigkeit zur richtigen Diskriminierung: Diese Menschen glauben, dass sie Klassengrenzen überwinden können, wenn sie sich von jenen Kreise absetzen, aus denen sie stammen. Neureiche und Aufsteiger diskriminieren immer alles, was unter ihnen ist, und versuchen damit zu zeigen, dass sie keinesfalls zu “denen” gehören. Sie trampeln sich mit der Diskriminierung eine Rampe der Überheblichkeit fest, über die sie Zugang zur besseren Gesellschaft haben wollen. Sie wollen nicht fragen, ob sie hochkommen dürfen – sie versuchen zu zeigen, dass sie auch oben sind.

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Und genau das ist der Fehler. In besseren Kreisen diskriminiert man ganz anders. Man hat es absolut nicht nötig, sich an der Theke mit dem Metzger darum zu streiten, ob er noch 10 Gramm mehr drauf tun darf. Man würde nie die Putzfrau ausrichten. Ganz im Gegenteil, gerade durch die nicht zu verleugnenden sozialen Unterschiede kann man mit anderen plaudern, ohne dauernd darauf herumzureiten, oder es die anderen spüren zu lassen. Dieses paternalistische Leben und Leben lassen ist gleichermassen angenehm, stressfrei und strukturerhaltend: Beide Seiten sehen zwar die Unterschiede, aber auch deren Bedeutungslosigkeit, wenn es um das Tagesgeschäft geht. Das lernt man in unseren Kreisen schon als Kind, weil man gnadenlos rundgemacht wird, wenn man in so einem Fall nur ein einziges Mal unhöflich sein sollte, man lernt es in der Kinderoper beim Barbier von Sevilla, wo Almaviva den Barbier braucht, und beim Don Giovanni, der nichts ohne seinen Leporello wäre.

Man lernt beim Barbier aber auch den schleimigen Basilio kennen, und den geldgierigen Dr. Bartolo, der eine hinterhältig und ausrichtend, der andere heimtückisch und nach Aufstieg schielend. Zusammengenommen sind sie der Urtyp dessen, was sich oben mit der Verachtung anderer Leute lieb Kind machen will, der Aufsteiger, das Wiesel, der Parvenü, der nur so lange nett ist, bis er zum Überholvorgang ansetzt. Solche Menschen respektieren weder jene, von denen sie abstammen, noch jene, die ohne jede Leistung dort geboren und aufgepäppelt wurden, wo sie gerne wären. Verständlich – aber es ist auch verständlich, wenn sie statt akzeptiert – die natürlichen Ziele der Diskriminierung der Oberschicht werden.

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Denn der Aufsteiger ist das perfekte Opfer: Er ist einfach auszusondern, weil ihm die gemeinsamen Erfahrungen des Aufwachsens in den besseren Kreisen fehlen. Er ist einfach zu treffen, weil er sich bei seiner Anbiederung exponiert. Er ist nicht systemrelevant, weil er isoliert ist, und man dabei nicht Gefahr läuft, mit ihm auch sein Umfeld oder eine gute Familie zu insultieren. Es wird allgemein akzeptiert, weil der Aufsteiger im Gegensatz zu anderen sozialen Schichten die Klassengrenzen in Frage stellt – natürlich ohne zu verstehen, dass er es tut, aber in besseren Kreisen lernt man früh, dass Unwissenheit vor Strafe nicht schützt. Und, das Schönste am Aufsteiger, mit seiner Ausgrenzung kann man anderen Schichten demonstrieren, dass man für Verräter nichts übrig hat. Aufsteiger ausgrenzen ist hochgradig systemerhaltend, ja, besser noch: Es verleiht einer vollkommen irrationalen, komplett eingebildeten und nur durch Vorurteile definierten Mauer einen Sinn und echte Geltung, wenn einer herabgefallen und sich an ihrem Fuss das Rückgrat gebrochen wird.

Also schneidet man den Aufsteiger nicht nur, man lässt auch kein Wort von dem durchsickern, was er über andere so äussert, man ist mucksmäuschenstill, solange nicht mindestens drei schlimme Ratschkatteln auf dem Wochenmarkt oder zwei Friseusen zuhören. Nie würde man natürlich auf die Idee kommen, ihn einfach nur auf seine Ebene zurück zu schicken; spricht man von ihm, sortiert man ihn stets hinter jenen ein, über die er sich zu erheben trachtete. Man reisst seine Rampe nieder, man teilt das öffentlich mit, und signalisiert, dass man nichts dagegen hätte, würde man ihm weiter unten seine Diskriminierung mit Gleichem vergelten. Man restauriert die zinnenbewehrten Mauern und reinigt den Graben davor, und wundert sich ein wenig, warum die so sind. Gäbe es doch so viele Möglichkeiten, die verfetteten Herzen all jener alten Tanten zu erobern, die gar nicht so schlimm sind, wie immer behauptet wird, solange man das System der besseren Tugenden und hilfreichen Sekundäruntugenden nicht in Frage stellt. Derweilen werden die verhinderten Aufsteiger Mitglied bei Facebook und Xing und versichern sich, dass sie trotzdem dazu gehören.