Die meisten Menschen sind zu feig zum Bösen, zu schwach zum Guten.
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung
Also, ich muss das schon wieder erklären: Ich mag meinen Ehrgeiz nicht, denn er steht mir so schlecht wie ein Berateranzug. Ich habe schon Berateranzüge getragen und mich dabei unwohl gefühlt, was auch in den Situationen, lachhaft, grotesk und auch mit dem Anlass Broterwerb nicht entschuldbar, begründet gewesen sein mag. Gern behaupte ich von mir, keinen Ehrgeiz zu kennen, aber das stimmt leider nicht, man könnte übelmeinend auch sagen: Ich lüge. Ich kann aus den geringste Anlässen von Ehrgeiz zerfressen sein. Geringste Anlässe wie jenes sportlich bekleidete Münchner Paar, das mich an der ersten Steigung einholt. Sie tragen Funktionsjacken und haben Steckerl dabei. Ich trage eine Lederjacke, einen Merinopullover, eine ausgediente Hose, handgestrickte Socken und schwere Schuhe, dazu eine Lederkappe und eine Fliegerbrille, und ziehe einen Rodel nach. Ich habe jeden Anlass, langsamer als die geringsten Anlässe in leichtem Plastik zu sein. Sie ziehen davon, und ich biege auf den kurzen, aber technisch anspruchsvollen Steilweg ab.
Auf 1050 Meter sehen wir uns wieder. Ich bin 50 Meter vor ihnen. An dieser Stelle würde ich gemeinhin eine Pause machen, aber es reicht, einmal überholt zu werden. Also gehe ich weiter. Ich führe durch die Steilkurvenkombination, am Holzstoss, und mit letzten Reserven beim Einstieg in den Berghang zum Gipfel. Am Schlussanstieg, steil und eisig, gehe ich so weit, bis ich hinter einer uneinsehbaren Kurve bin, und breche zusammen. Sobald ich wieder japsen kann, stehe ich auf, begebe mich in eine ausschreitende Haltung, um wieder loszugehen, wenn sie um die Kurve kommen. Sie kommen nicht. Weiter unten mault sie, dass es ihr zu viel ist. Er versteht das. Frisch beflügelt stürme ich weit vor ihnen den Gipfel. Funktionsjackenträger. Ich schleppe einen Rennrodel, habe einen gebrochenen Zehen und ein ärztliches Bergsteigeverbot und bin trotzdem schneller, würde ich sagen, gäbe ich je zu, ehrgeizig zu sein. Aber das passt nicht zu mir, zum Tag und zum Ort.
Ich bin auf der Neureuth, es ist Werktag ausserhalb der Ferienzeit und Mittag. Wer jetzt hier oben ist, musste sich entweder Urlaub nehmen, oder lebt im Urlaub für immer. Die erste Kategorie darf und muss Ehrgeiz haben, die zweite Kategorie hat das nicht wirklich nötig. Ich finde eine freie Bank, pfeife Bibers Orgeleinleitung zum Hosanna der Missa Celensis auf meinem übersauren Lüngerl, und kann schon nach ein paar Minuten wieder mit der Bedienung plaudern, die wissen will, ob sie mir “etwas Gutes tun” kann, und wo meine letzte Begleitung geblieben ist. Ich bestelle Tee und Topfenstrudel, lehne mich wieder an die Holzwand, schliesse im Sonnenlicht die Augen und höre, wie die geringsten Anlässe der Funktionsjackenträger nun auch kommen, und ihren leicht nörgelnden Tonfall, der verrät, dass sie sich den Urlaub mit Nordic Walking hier hoch doch etwas leichter vorgestellt hat. Nicht so schneeig. Die Wärme kriecht von der Holzwand der Hütte in meinen vom Ziehen verspannten Rücken. Von vorne brennt die Sonne und von unten der gebrochene Zeh. Die Bedienung bringt den Tee und den Topfenstrudel.
Von Tegersee aus, wo sich die Häuser hoch den Hang hinauf ziehen, kommen weitere Gäste, darunter auch drei Frauen, die fragen, ob bei mir noch frei ist. Recht voll ist es geworden, die Zeiten der Stille sind vorbei, ich biete ihnen den Platz an, und sie setzen sich. Sie sind in jenem Alter, da der Verfall sich nicht mehr bestreiten lässt, auch nicht durch die Sonnenbrillen bekannter Marken und die moderne Sportbekleidung, die mich in meinen ledernen Brauntönen wie ein Relikt aus jener Epoche erscheinen lässt, der sie eigentlich entstammen. Sie reden über Immobilienpreise, was man hier eben so tut, wenn man das Wetter schon ausgiebig gewürdigt hat, und meine neue Nachbarin möchte wissen, ob der Topfenstrudel zu empfehlen ist – oh, absolut, wirklich, sage ich, noch nicht ganz an die demonstrative Distanzlosigkeit gewöhnt, die die Menschen in diesem Tal befällt, wenn sie glauben, auf Hütten unter ihresgleichen zu sein.
Nach dem Topfenstrudel mache ich mich an das, was man mit etwas Übertreibung als Arbeit bezeichnen könnte: Ich mache ein Bild. Ich suche die Kamera, schalte sie ein, hebe sie hoch und drücke auf den Auslöser, dabei von meiner Nachbarin erst vielleicht etwas misstrauisch beäugt, aber wer kann das bei den heutigen Sonnenbrillen, gross wie Spiegeleier, schon genau sagen. Sie wendet sich um, schaut den gerade abgelichteten Himmel an und sagt, ich sollte doch besser warten, bis der Idiotenstreifen weg wäre, der störe nur das Bild. Welcher Idiotenstreifen, frage ich. Der knapp unter der Sonne, meint sie. Tatsächlich bewegt sich dort ein Flugzeug und hinterlässt einen kurzen, unbedeutenden Kondensstreifen in der klaren Bergluft.
Sie meinen den Kondensstreifen, sage ich. Natürlich, sagt sie, sie stört sich an diesem Makel des ansonsten reinen Blau über den Bergen, und sie gibt auch ihrer Missachtung derer da oben deutlich Ausdruck: Idioten, die mit ihrer Businessfliegerei die Aussicht schädigen würden. Ich schaue sie genau an, aber hinter der Sonnenbrille kann alles mögliche sein, echte Empörung, Ironie, Verachtung, ein leises Lachen, man erkennt das nicht. Vielleicht sagt sie das auch nur, um auf sich aufmerksam zu machen, vielleicht müsste ich sie kennen und habe keine Ahnung, dass dem so ist, weil ich keinen Fernseher habe und sie vielleicht Ansagerin oder sonst etwas war, das es immer im letzten Lebensdrittel an einen der oberbayerischen Seen treibt. Vielleicht ist sie aber auch nur einen Moment die Elite. Also, ich muss das erklären. Ich glaube nämlich, dass die Elite volatil ist. Weil, sagen wir mal, der niedersächsische Ministerpräsident ist ganz sicher keine Elite, wenn er von einer Fluggesellschaft bessere Plätze geschenkt bekommt. Der fühlt sich vielleicht wie Elite, ist aber nur eine arme Nummer. Elite ist etwas, das man selbst unter Idealbedingungen nur ab und zu sein kann.
Wenn man etwa Richtung Norden schaut, was von da oben nur unter Verrenkungen möglich ist, denn hier will man doch nicht nach Norden schauen, wo die leben, die nicht am Tegernsee leben können, im Norden also sieht man die Wolken über Deutschland, von Dürnbach bis Hamburg. Da leben und arbeiten 82 Millionen Deutsche, die schon mal nicht hier oben sind, sondern unter der grauen Pampe. Seit Tagen oder Wochen. Die nicht bei 17 Grad plus an der Hauswand sitzen. Bei denen der Schnee ernst gemeint ist, und nicht nur blendend weisse Dekoration wie hier oben. Da unten gibt es keine Elite. Elite ist auch nicht im Tal, denn dort ist es kalt, wegen Inversionswetterlage. Elite ist auch nicht hinten bei Kreuth in den Seniorenresidenzen, selbst wenn dort ein Monat mehr kostet, als ich in vier Monaten verdiene. Die schaffen es nicht mehr hier hoch. Aber die Frau mit der Sonnenbrille kommt noch herauf und sieht dabei für ihr Alter sehr gut aus. Und kann sich über die Idioten in ihrem Flugzeug da oben lustig machen. Vielleicht sitzen darin russische Oligarchen – Idioten, trotzdem. Nicht mal eine Art Schönheitspflaster für den Himmel, der einen wohlig daran erinnert, dass andere vielleicht gerade eine Präsentation machen müssen und einen unaufschiebbaren Termin haben, für den sie in ein hässliches Terminal mussten. Einfach nur Idioten, sagt sie. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, sagte Carl Schmitt. Der war auch ein Idiot, und ein Nazi (Mitgliedsnummer 2 098 860), aber die Frau ist für diesen kurzen Moment die Elite. Der leicht faltenbekränzte Nabel der Welt, der sie einteilt in Idioten und jene, die hier auch noch das letzte Fitzelchen Störung der Entspannung, jede Erinnerung an Eile von ihrem Himmel geputzt haben wollen.
Gut, sage ich, und mache später noch ein anderes Bild des Himmels, ohne Flieger, aber da redet sie schon wieder banales Zeug mit ihren Freundinnen über Leute, die man vielleicht auch kennen sollte, aber ich werde auch in Zukunft keinen Fernseher haben. Ich habe nur einen Rennrodel, der mich zurück ins Tal bringt, wo ich, nach schneller Fahrt angekommen, mich erst mal durchbiege, Füsse und Kopf auf dem Eis, und lache vor Glück.
Die Elite ist vielleicht schon weit weg von hier, in einem Bankster aus England, der in Davos mit Ski angetan über eine Schanze springt und jauchzend nicht ahnt, dass man ihn daheim der Steuerhinterziehung überführt, am Abend gastiert sie noch einmal in der alten Dame jenseits aller irdischen Freuden in der Oper, deren Seele durch die Musik heller funkelt als alle Juwelen auf ihrem faltigen, modernden und krebszerfressenen Leib, sie mag viel zu spät in der letzten Nacht noch einen Mann durchglühen, der in einer Frau jenes ultimative schwarze Gift findet, nach dem er sich tagelang verzehrte, und am nächsten Morgen bildet sich ein Erbsenzähler in tiefster und ehrlichster Einfalt etwas ein, wenn er im Gegensatz zu seinem Bürokollegen zum Vorstandsassistenten mit Anspruch auf einen Dienstopel befördert wird, während die Jungautorin noch zitternd des Pakets harrt, in dem ihre Belegexemplare kommen. Sie alle werden kurz erhoben sein über andere, um dann wieder zurückzusinken in die Normalität, und nur wenigen ist es vergönnt, immer und jederzeit entscheiden zu können, wann sie sich von den anderen ausnehmen.
Das ist natürlich ungerecht, aber eines Tages wird die Frau mit all ihrer Arroganz den Berg nicht mehr hochkommen, und keine Brille wird ausreichen, um das Ende zu verdecken; auch ich werde vermutlich schneller morsch, als das Eschenholz meines Rodels, die Luxusprobleme werden durch die echten Sorgen abgelöst, und dann werden andere kommen; vermutlich auch in dieses Tal, und wieder definieren, warum sie oben sind und andere nicht, und warum es beim Topfenstrudel genau richtig ist, und im Flugzeug darüber grundfalsch. Wir werden alle sterben, aber die Haltung wird überleben.