Ich stieß ihr den Dolch in die Därme,
Die Tante schnaufte nicht mehr.
Frank Wedekind, Der Tantenmörder
Also, wenn Sie mal in Verona sein sollten, jener immer leicht unterschätzten Grenzstadt des echten Italien zum Welschen, gehen Sie unbedingt zu Scapin. Ich weiss, die kleinen Delikatessenläden in der Innenstadt sind noch voller mit allem, was Italien hergibt, daneben sind die Antiquitätengeschäfte, bei denen man Mitbringsel kaufen könnte, oder zumindest einen handgemachten Lampenschirm mit einer aufgedruckten Vedute von Venedig – aber Scapin ist grösser, hat noch mehr Auswahl und ist nicht so touristisch. Bei Scapin gibt es auch noch die ganz alte Art: man zieht einen Zettel mit einer Nummer, nach der man dran kommt, und kann in aller Ruhe durch den Raum gehen, Dinge aussuchen – eine Knoblauchpaste für Vetter Wastl, eine ökologische Pfirsichmarmelade für Tante Euphemia, die so pingelig ist – und das Treiben der besseren Kreise Veronas beobachten, bis man aufgerufen wird und an der Theke Käse und Fleisch bekommt, um dann mit den Rechnungen zur Kasse geschickt zu werden. Scapin ist höchst unpraktisch und würde jeden Berater von KPMG in den Wahnsinn stürzen, weil so viele Leute darin so viele sinnlose Dinge tun – aber es ist eben nicht nur ein Geschäft, sondern auch eine Oper.
In dieser Oper treten auf: Der stille, welsche Beobachter, viele ältere Damen und an denen enorm viel Schmuck. Ausserdem als Staffage: Ältere, dezent in Karo gekleidete Beimänner, die eventuell sogar ihre Wünsche äussern können. Dann öffnet sich die Tür, und herein kommt eine junge Frau in einem einfachen Kleid, mit Kinderwagen. Wie die Harpyen lassen die alten Damen ab von Gesprächen über Sonnenbrillen, Friseuren und Schmuck, beachten auch nicht mehr die mit Risotto gefüllten Tomaten und die auf Eis gelegten, kalten und sehr toten Fische, töter gar noch als sie selbst, und stürzen sich auf den Kinderwagen: Ohhhhh. Bellissimo. Derweilen, darin, erleidet das Kind einen Schock für das Leben, das Licht des Tages verschwindet hinter Klumpen aus Fett, Gold und Falten. Andere, deren Köpfe nicht mehr Platz über dem Nachwuchs haben, quetschen die Mama, die anderen Verlockungen hoffentlich widerstanden hat, nach allen Regeln des Verhörs aus. Wie alt, wie schwer, wie ist der Name, wer ist der Vater. So ist das in Italien, dem Land der Kinderlosen, wo Kinder inzwischen auch für bessere Jungfamilien einfach zu teuer geworden sind.
Das nämlich ist es, was die alten Tanten über dem Kinderwagen zusammensinken lässt: Die Gebärverweigerung ihrer eigenen Neffen und Nichten, das Ausbleiben jener den Genstrang erhaltenden Reduplikation, das früher zwingend war in besseren Kreisen, allein schon wegen der diversen Todesfälle vom Kindbett über den Reitunfall bis hin zu Krieg und Attentat. Das heutige Einzelkind pflegt fast immer durchzukommen, wenn es erst überhaupt angekommen ist. Wenn, ja wenn, seufzen die Tanten den Onkels in taube Ohr.
Früher, möchte man Tanten bei Scapin, Dallmayr und auf dem Wochenmarkt am Tegernsee sagen, früher war es ja auch nicht so teuer, so ein Kind in der besseren Gesellschaft aufzuziehen. Früher gab es keine Mobiltelefone, die Kinder ab der Kita brauchen, es gab keine Kindermarkenkleidung, und elitäre Kindergärten mit hohen Gebühren, biologischer Kost und Chinesischunterricht gab es auch nicht. So ein Kind kann, wenn es im Wettbewerb der Westviertel mithalten will, sehr schnell sehr teuer werden. Auf der anderen Seite aber halten die Einkommen der Eltern kaum mit dieser Entwicklung des Prestigeobjekts Kind mit, und wer nicht abstürzen will, sollte es als Doppelverdiener erheblich leichter haben.
Früher gab es zudem auch noch einen anderen Effekt, den man den alten Damen bei Scapin zwischen edlen Essigsorten und frischer Pasta vielleicht nicht ins Gesicht sagen sollte, aber – früher waren einfach die Lebenserwartung geringer. Es gab weniger alte, juwelenbehängte Tanten und mehr Erben in jüngeren Jahren, und obendrein war Schmuck auch wertbeständiger. Man konnte davon ausgehen, dass die finanziellen Belastungen durch Kinder nach ein paar Jahren durch Erbschaften mehr als aufgewogen wurden, und das oft, bevor die wirklich teuren Kinderwünsche wie Studienabbrüche, Wohnungen und Autos kamen. Obendrein blieb alten Tanten damals auch wenig anderes übrig, als ihr Geld zu sparen.
Aber heute gibt es analog zur Totalvermarktung der Kinder auch entsprechende Angebote für Senioren. Es gibt Reisen, Hotels, altengerechte Zugänge gegen unzeitgemässe Knochenbrüche, es gibt für jüngere alte Tanten den Fettabsauger, für die mittelalten alten Tanten den Faltentackerer und wenn das alles nichts mehr hilft, die freundlichen Damen der üblichen Schmuckgeschäfte zwischen Rom und Hamburg. Was es dagegen in aller Regel nicht mehr gibt, ist der Erbonkel, jene segensstiftende Kombination aus Alter, im Kindbett verstorbener Frau und Reichtum – der wurde durch die erbende Tante ersetzt. Das Alter ist, ein gewisses Vermögen und einen rechtzeitig dahingegangenen Mann vorausgesetzt, keinesfalls eine kurze Sackgasse mit dem Sarg am Ende. Es ist natürlich nicht gerade billig. Aber nach dem Wegsterben der Kriegsgeneration kommen nun die alten Tanten der 68er, und die sind nicht so dumm, für die Erben zu sparen.
Geht man nun davon aus, dass die kleinen Kinder mehr Geld brauchen, um auf dem Weltmarkt der Elite zu bestehen, und gleichzeitig die alten Tanten mehr Geld für den Weltmarkt der Freuden benötigen, für die Konkurrenz, die in Sterling auf dem Tisch und Karat über den Falten ausgetragen wird, und setzen wir weiterhin voraus, dass auch die irdischen Güter der besseren, bei Scapin verkehrenden Kreise nicht unendlich sind, sondern spätestens bei der Kreditkartensperrung Grenzen haben – steht der Rest, der nicht mehr Kind und noch nicht alte Tante ist, vor massiven Verteilungsproblemen. Es ist sicher keine böse Absicht, nur die veränderte Existenzform der Verwandtschaft, die es so schwer macht, sich weitere Kosten aufzubürden. Und das Schlachten der alten Tante ist auch keine Lösung, zumindest nicht nach deutschem Strafrecht.
Es mag nach Angeberei klingen, wenn mir Gleichaltrige erzählen, sie hätten einen Geldanlageplan für das Studium ihres Kindes, in dem der Bankberater gleich hohe Studiengebühren kommender Regimes miteingerechnet habe – und doch ist es wenig gegen die gute alte Sitte, dem Kinde zum Studium die Wohnung und das Auto hinzustellen. Es mag nicht jedem zusagen, wenn auch nachweislich dumme Kinder zu Hochbegabten gemacht und durch die Schule und Schnellstudien gejagt werden, um mit 22 viel zu jung und menschlich unerfahren für einen Beruf jenseits der üblichen Zockerbranchen zu sein – ich aber vermute, dass es einfach schnell gehen soll. Kurze Ausbildung ist weniger Kosten, denn niemand kann heute so lang studieren, bis er von seiner Tante eine Villa, idealerweise am See und ihren alten SL erbt.
Besuchen Sie also jenen Feinkostladen und schauen Sie sich um, sehen Sie die Scheine, die für Dickmacher über die Theke gehen, und jene Tanten, die im Zweifelsfall eben eine Kur bekommen: Kein Punkrockkonzert, kein zusammengeklautes Machwerk minderer Güte, kein aufgeflogenes Depot in der schönen Schweiz bricht so sehr die Tradition des Reichtums wie das lange Leben eben jener alten Tanten, die gleichzeitig die Tradition bewahren wollen. Beides – Tante und Tradition – geht jedoch nicht. Aber natürlich kann man das nicht sagen, und es wäre auch enorm unhöflich, denn immerhin raten sie einem, wenn sie genug von dem schreienden Balg haben, doch lieber die etwas teureren Oliven zu nehmen. Sie wissen, wovon sie reden.