Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die neuen Herren und die alten Westviertel

Wenn man früher wissen wollte, wer das Sagen hat, ging man in die Westviertel. Dort war die lokale Prominenz, das Geld und die Macht, die Reichen und die wichtigen Leute. Heute ist dort immer noch die lokale Prominenz und das Geld. Die Macht ist aber bei den Märkten, die Reichen sind Russen und Chinesen, und die wichtigen Leute kennt keiner mehr, noch nicht mal in den Westvierteln, die damit die eigentlichen Verlierer der Globalisierung sind.

Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.
Karl Marx, Manifest der Kommunistischen Partei

Früher war es vergleichsweise einfach, ein Honoratior zu werden, um dieses antiquierte Wort zu benutzen, eine Stütze der Gesellschaft, ein Reicher oder jemand, von dem das Umfeld sagte, er sei wichtig. Im Kern ging es einfach darum, im eigenen Dorf oder der eigenen Stadt in den richtigen Kreisen geboren zu sein, dann ergab sich das alles ganz von selbst. Kinder von Notaren, Fabrikanten und Apothekern traten die Nachfolge der Eltern an und heirateten die richtigen Partner, und immer kannte man jemanden, der bereit war, ein Kind so zu vermitteln, dass es in einer Seitwärtsbewegung in einem anderen Bereich, aber in der gleichen Schicht tätig werden konnte. Der Umstand, dass die besseren Kreise recht früh Familienplanung betrieben, während schlechtere Kreise und religiöse Kleinbürger die Last des Bevölkerungswachtums trugen, verstärkte bis in die 70er Jahre die typisch deutsche Elitenbildung, an deren Ende das westdeutsche Westviertel mit all seinen Überzeugungen, Strukturen auf Gegenseitigkeit und sogar einer gewissen Egalität seiner Bewohner untereinander stand.

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Heute gibt mir die Word-Tippfehlersuche “Honoratior” als Verschreiber an, und auch sonst hat sich in Zeiten von Computern und Internet vieles geändert: Die lokalen Eliten sind, gerade weil sie lokal sind, eigentlich keine Eliten mehr, sondern nur noch Globalisierungsopfer; Opfer auf hohem Niveau, weil sie einerseits die Profiteure der Geldströme sind, die um den Globus jagen, aber andererseits in ihrer lokalen Verhaftung eben auch Spielbälle dieses Geldes, dessen Entscheidungen längst nichts mehr  mit ihnen zu tun haben. Und die Entscheidenden wiederum sind nicht mehr lokal anzutreffen; statt dessen hat sich im allgemeinen Verständnis eine neue Oberschicht herausgebildet, die man als “die Reichen” oder “die Elite” betrachtet, in der die Notare, Apotheker und Mittelständler keinen richtigen Platz mehr haben.

Dieser Auffaltungsprozess, diese Knautschzone beim Zusammenstoss der Welt mit sich selbst mag vor allem die Armen treffen, die zum Spielball bildungsferner Rechtspopulisten werden, sie mögen die Kleinbürger verunsichern, aber “Unten” bleibt innerhalb des Landes zumindest unten, und darf sich dabei noch glücklich schätzen. Alles, was nicht zur Elite gehört, erhält mit dem Industrialisierungsopfer in China, den kaputten Näherinnen in Bangladesch und den entindustrialisierten Katastrophenregionen des britischen Peso und der Vereinigten chinesischen Kolonien Amerikas etwas, das darunter angesiedelt ist. Gewinner sehen anders aus als der deutsche Durchschnittsbürger, aber eigentlich steht er im Vergleich gar nicht so schlecht da.  Oben sieht das grundlegend anders aus.

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Nehmen wir beispielsweise eine Bekannte, die etwas älter als 40 Jahre ist, und deren Eltern in einem  südlichen Vorort von München als arriviert gelten dürfen. Wie alle jungen Menschen mit begrenzten Gaben hatte sie nach dem verpflichtenden Abitur die Wahl zwischen Jura und BWL, entschied sich für Zweiteres und wurde danach klassisch versorgt: Ein Nachbar war ein Entschidungsträger in einer mittelkleinen, feinen bayerischen Bank, erleichterte ihr den Einstieg auf einem angenehmen Posten, und nach der althergebrachten Überzeugung wäre sie dort geblieben, hätte ihren Fähigkeiten entsprechend Beförderungen erhalten und sich bemüht, dass ihre bei dieser Bank kleinanlegenden Eltern auch weiterhin reich und geachtet geblieben wären.

Es mag wie eine Ironie wirken, dass dieser konservative Lebenslauf von konservativ denkenden Entscheidern  mit dem Segen einer konservativen Staatspartei zerstört wurde – aber die mittelkleine, feine Bank wurde nach ein paar Skandalen von einer ebenfalls mittelkleinen, aber etwas grösseren bayerischen Bank gefressen. Als noch junges Rädchen durfte sich die Bekannte glücklich schätzen, nicht zu den Synergieeffekten zugerechnet zu werden, und in jenen Tagen galt man schon als gefördert, wenn man nicht entlassen wurde. Die nunmehr mittelgrosse Bank sah sich in Konkurrenz zu globalen Banken und musste effektiver werden; die Titel der Bekannten wurden ab und an besser, während unter ihr die Abteilungen gestrichen und zusammengelegt wurden; Sekretärinnen verschwanden, und allen wurde nahegelegt, in Zukunft noch mehr zu leisten, wollte man vor dem Markt bestehen.

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Ein paar schöne Titel und Konzentrationsprozesse mehr, ist sie immer noch dort, wo sie angefangen hat: Gerade noch so mit dabei, unten in der Hierarchie, und die Zeiten, da sie ab und an mit dem Vorstand im Aufzug stand, sind auch Geschichte. Die Bank war nicht gerade klug und geschickt auf dem grossen Weltmarkt, sie wurde aufgespalten und verkauft, und aus einem Teil wurde ein Haus, das nun als Skandalbank gilt. Sie sitzt im “richtigen” Haus, aber über ihr haben die neuen Besitzer etliche Hierarchiestufen eingezogen, von denen sich die meisten im Ausland befinden und nur als Kommandogeber ohne Rücksprachemöglichkeit bekannt sind. Nie war sie weiter von der Spitze entfernt als in jener Bank, in der sie laut Titel auf den Visitenkarten eine leitende Stelle haben soll – nur ist darunter niemand ausser einer viertelten Sekretärin, die sie leitet.

Das ist natürlich auch dem Ruf im Viertel nicht zuträglich, wo die meisten den Paradigmenwandel selbst bei ihren Kindern erleben mussten. Der Aufstieg in die höchsten Sphären, die man früher selbst gewesen ist, oder die die Nachbarn waren, ist heute weitgehend verwehrt, und wer dorthin möchte, braucht erheblich mehr als die richtigen Bekannten im richtigen Westviertel: MBA-Titel, die richtige Universität, die richtigen Sprachen, die richtige Einstellung zum Kampf, sicher auch einiges an Zynismus und Verachtung für eine Welt, die es aufzubrechen gilt. Denn wer ganz an die Spitze will, muss eben jenes behäbige Klientel der Westviertel überbieten und ausstechen; er darf sich nicht den Strukturen andienen, die ihm einen gesicherten Platz offerieren konnten, sondern jenen neuen, ortlosen Kommandoebenen, deren wichtigstes Kennzeichen nicht das Bestreben nach einem sicheren Standpunkt ist, sondern die stetige Suche nach besseren Durchstiegen zu jenem Gipfel, der sich mit jeder Krise und jedem Wachstum weiter auffaltet.

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Würde das Westviertel Karl Marx lesen, käme es vielleicht auf den Begriff der “Ursprünglichen Akkumulation”, mit dem Marx eine Voraussetzung der Revolution beschreibt – der Umverteilung, die, auf die Spitze getrieben, den Aufstand der besitzlosen Massen gegen die Besitzenden zur Folge haben wird und muss. Der Kapitalismus hat sich dagegen ein soziales Mäntelchen umgehängt und die schreienden Ungerechtigkeiten auf jene Rohstoff- und Produktionsmärkte ausgelagert, auf denen entschieden wird, in welcher Region der Welt für den Reichtum unserer Gesellschaft geschuftet, gehungert, gemordet und krepiert wird. Das Westviertel jedoch, dessen Vorzug es immer war, bei diesen Prozessen am richtigen Ende der Verteilung zu stehen, sieht sich nun einer ganz ähnlichen Entwicklung ausgesetzt: Akkumuliert wird nicht mehr nur das Geld bei internationalen Oligarchen, sondern auch die Macht. Nicht mehr der Nachbar hat bei der Karriere die Hand im Spiel, sondern eine Abteilung irgendwo in der Welt, die Evaluationsgespräche führt, und Benchmarks verwaltet. Diese Machtakkumulation hat das Westviertel weitgehend ausgeschlossen und abgehängt. Würde man dort Marx lesen, vielleicht auch ein wenig über die Frage der zukünftigen Stellung nachdenken, und sich hinlänglich ungerecht behandelt fühlen, könnte man sich sogar fragen, ob es nicht Zeit für eine Revolution gegen dieses System wäre, bevor es einem die Kinder nimmt und sie zu einer Schicht degradiert, die vielleicht noch eine gewisse Funktion, aber kein Ansehen mehr hat.

Dazu jedoch dürfte man nicht saturiert und ohne echte Bedrohung des eigenen Wohlstandes sein; erst dann regt sich Angst und Widerstand. Nach dem scheinbaren Ende der Finanzkrise jedoch erzählt man sich wieder von neuen Visitenkarten der Kinder und tratscht hintenrum, dass es den Kindern der anderen in Wirklichkeit nicht im Mindesten so gut geht, wie sie selbst behaupten. Marx würde vielleicht lächeln, wenn er sehen könnte, was aus seinen Feinden wurde.