Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Rad- und Bandscheibenwanderungen südlich von München

Es liesse sich trefflich darüber streiten, ob sich etwas sich zurecht als "Ziviliastion" bezeichnet, wenn es gleichzeitig Zivilisationskrankheiten nach sich zieht. Hätte man den Menschen etwa entwickelt, um am Telefon zu brüllen und jeden Tag 12 Stunden auf einen Bildschirm zu starren, sähe er ganz anders aus - vielleicht wie ein Berliner Kreativer, ich weiss es nicht. Was ich aber weiss ist, dass ich im Sommer radeln gehen möchte, und zwar mit Freunden und Rädern, die jene nicht mehr brauchen, die sich dieser unserer Zivilisation mehr angepasst haben, als gut für ihren Rücken war.

Wir kommen in das Alter, da wir jeden Tag nach dem Aufstehen eine Tablette nehmen müssen.
Holgi “Die Welt ist klein mit Holger Klein” Klein dixit, bei Tee und Kuchen

In Mantua entdeckte ich vor ein paar Jahren den Charme des Gästerades. In meiner üblichen Bleibe, in der ich ab morgen wieder sein, über Kultur in Oberitalien berichten und die armen Leute in Leipzig lachen werde, gibt es ein paar Räder, die man einfach nehmen und damit in die Stadt radeln kann. In der kleinen dummen Stadt an der Donau, in der ich mitten in der Altstadt wohne, brauche ich das nicht, aber am eher dörflichen Tegernsee, wo die besten Konditorei, der schönste Biergarten und das Buchgeschäft entlang der Küstenlinie zwischen Finsterwald und Leeberg verstreut liegen, ist das Rad eine feine Sache, zumal, wenn sich die Unglücklichen aus München an der Promenade in ihren Autos stauen. Ein Rad habe ich, aber wenn Gäste da sind, wären ein, zwei andere Räder ganz nett, eines vielleicht für Damen und dann noch zwei richtige Bergräder, mit denen man auch auf die Neureuth radeln kann, zum Spitzingsee oder auch nach Venedig. Richtige Bergradl eben.

Bild zu: Rad- und Bandscheibenwanderungen südlich von München

Die sind naturgemäss nicht wirklich billig. Eine Neuanschaffung für Gäste würde sich kaum lohnen, und so suche ich ab und an im Internet nach guten Gebrauchträdern aus der Region, wo ich sie selbst abholen und eine Blick auf die Besitzer werfen kann – ich möchte nicht mit einem dereinst geklauten Rad angehalten werden. Die Wege führten mich stets ins Münchner Umland, in jenen ominösen Speckgürtel, wo alles irgendwie satt, zufrieden und sauber und jedermann am Telefon sehr höflich ist. 18 Uhr, gerne, man ist da. Die angegebene Adresse ist stets ein üppiges Haus, wie man das erwartet, wenn der Neupreis des Rades die Jahreseinnahmen eines Berliner Kreativen aus echter Arbeit ohne Tablettenverhökern weit übertrifft. Und ebenso sauber und gepflegt wie die Gärten sind auch die Räder.

Das ist ein wenig bedauerlich, denn das Reparieren von Fahrrädern gehört neben Erfahrungen im Leitungsbau zu den Fähigkeiten, die man von einem ansonsten eher nutzlosen, schlechteren Sohn aus besserem Hause, der seine Unarten als Kolumnist in dieser Zeitung verwertet, nicht zwingend erwarten würde. Ich würde gern Schaltungen einstellen und Lager fetten, Höhenschläge zentrieren und Federelemente justieren. Allein, die Räder, die ein paar Jahre nach dem Kauf nur noch ein Zehntel des Originalpreises kosten, wurden schon vor Jahren eingemottet und warteten in Kellern auf einen Einsatz, der nie mehr kommen sollte. Die Wirbelsäule der Besitzer hatte sich verabschiedet, eine Bandscheibe war vorgefallen, und das bis dahin ohnehin nur auf Feldwegen gelaufene Rad wurde sinnlos. Man sieht das an den makellosen Kettenstreben. Und an den langsamen Bewegungen der ehemaligen Besitzer, die froh sind, wenn das Teil und die Erinnerungen an jene Tage, da es noch anders hätte sein können, weg sind.

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Nun könnte man natürlich sagen, dass nur jene 35-50jährigen ihre alten Rennbergräder verkaufen, die sie nicht mehr fahren können, und all die anderen pflügen weiterhin froh durch Eis und Matsch; meine Auswahl sei zu klein und die Schlussfolgerung zu gewagt – aber tatsächlich ist das ein Muster, von dem ich recht häufig höre: Jene erfolgreichen Vorstadtbewohner aus den Speckgürteln, die sich die besten Sportgeräte und Fitnessclubs und trotzdem später die besten Ärzte für ihr Rückenleiden leisten. Frech wage ich hier zu behaupten: Das ist eine Zivilisationskrankheit einer Elite, die beruflich eine gewisse körperliche Stärke ausdrücken muss, und am Ende doch wieder 10 Stunden pro Tag, 70 Stunden die Woche vor dem Bildschirm sitzt. Es ist meistens der Rücken.

Früher hatte die Oberschicht ganz andere Leiden: Jagdunfälle in der Jugend waren ebenso normal wie die Gicht des Alters durch überzogenen Fleischkonsum, und dazwischen aufgrund der herrschenden Verhältnisse und Moralvorstellungen Geschlechtskrankheiten aller Arten, oder, falls es jemand mit der Eifersucht oder der Intrige doch zu ernst nahm, der Dolch zwischen den Rippen. All das fällt für die moderne Funktionselite aus, man darf kein Fett mehr essen, und die sexuellen Begierden werden auch nicht an Mägden vollzogen, solange man sie sich nicht im Internet herunterladen kann – und so sitzt man eben da, isst schmale Kost, weil man sich zu wenig bewegt, und bewegt sich wenig, weil alles über den Bildschirm kommt, das Vermögen wie auch die Selbstversicherung, unverzichtbar zu sein – bis der Rücken nicht mehr mitmacht und, die Bandscheibe ausspuckend, auf seinen Besitzer verzichtet.

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Rückgrat, so hört man in diesen unseren Zeiten oft, ist in der modernen Wirtschaft so förderlich wie die Milz oder ein Ekzem, und insofern ist es natürlich eine Ironie des Schicksals, wenn ausgerechnet dieser Körperteil mit so etwas wie Haltungsverlust auf sich aufmerksam macht. Es ist eine fiese Krankheit, schmerzhaft und nicht einfach mit ein paar Pillen zu bekämpfen; sie verleidet Beruf und Privatleben gleichermassen, und lässt wissen, dass die Zukunft auch nicht gerade besser wird. Kurz, der Bandscheibenvorfall ist die ideale Krankheit für mediokre Zeiten wie unsere, da Banken 2 Milliarden Verlust machen, weil sie 2 Milliarden Boni an die Verursacher ausschütten, und Länder wie Griechenland sich nicht mehr unbegrenzt durchschlängeln können. Es ist der perfekte Schmerz zum Lebensgefühl, dass es einem später mal nicht besser gehen wird.

Der Bandscheibenvorfall bleibt im Leben, egal wie es ausgeht, als dauernde Bedrohung erhalten wie die nächste Rezession, er lässt einen schmecken, wie sicher die Rente dereinst sein wird und all die Wertpapiere, die man sich zulegte, und in den Wochen, da man auf Reha ist, geht die Firma unverschämterweise auch nicht unter. Man gibt sich ja gern als Leistungsträger, aber in solchen Momenten muss man erleben, dass es auch andere können. Und jene jungen Söhne und Töchter, die schon während des Studiums in China waren, wittern vermutlich schon die Aufstiegschance, durch die sie noch mehr Leistung zeigen können, als der alte Mann mit dem Rückenleiden. Wäre man Honoratior gewesen, hätte man mehr als Leistung tragen können, hätte man auch in sich ruhend etwas ausgedrückt, hätte man auch mit kaputter Wirbelsäule weiter bestimmen können. Aber ein Leistungsträger, der nichts mehr trägt, ist für Leistungsgesellschaften überflüssig.

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Und so nimmt man eben Abschied von den anderweitig verpassten Gelegenheiten und räumt das Restleben auf. Begnügt sich mit dem, was noch geht, wahrt die Fassade, und entsorgt Störendes, an die eigene Schwäche erinnerndes im Internet an jene, die noch etwas damit anfangen können. Es ist zwar völlig normal, in einem Alter jenseits der 40 bei all dem Stress und der Rennerei zur Spitzenposition das ein oder andere Gebrechen zu bekommen, aber für Männer ist das ebenso inakzeptabel wie die Orangenhaut der Frauen. Es geht um Leistungsfähigkeit, um den Marktwert im System, und wenn der auf einem Feld nicht mehr zu bewahren ist, muss es eben aus den Bilanzen verschwinden.

Das ist schlüssig und kongruent, so verhält man sich systemkonform und ist in der Lage, sich weiterhin an eine Firmenmaschine anzudienen, zu der es kaum Alternativen gibt; für die man sich aber auch entschieden hätte, wenn es noch die Alternativen der alten, westdeutschen BRD gegeben hätte. Schliesslich wollte man ja weg vom langsamen Wachstum und Ausgleich, man wollte den Focus lesen und Entscheider sein, man wollte zu den Besserverdienenden gehören und nicht nur zu jenen, denen es egal sein kann, weil es für sie so oder so reicht. Wer denkt mit 30 Jahren schon an seine eigene Realität mit 50 Jahren.

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Und so verkaufen sie dann, und ich kaufe. Es macht mir nichts aus, wenn die Räder ein Kilo mehr wiegen oder nicht die neueste Modefarbe haben; wenn man damit 2002 auf den Berg kam, schafft man es 2010 auch, und meine Gäste sind nicht am See, um sich in Grenzerfahrungen abzurackern. Am Ende ist ein Gipfel und darauf ein Biergarten und ein Koch, der Spinatknödel mit Butter und Parmesan bereitet. Da müssen wir hinkommen. Das ist ein Ziel, für das es sich zu strampeln lohnt. Damit erobert man natürlich keinen Weltmarkt und auch keine Bewunderung in der FDP, aber es macht Spass. Und das Rad wird endlich seiner richtigen Bestimmung zugeführt.