Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Friss oder stirb umständehalber

Natürlich muss man sich keine Umstände machen, wie es so oft von Gästen in der Gegenwart gewünscht wird. Man kann die Gäste auch aus Plastik bewirten, oder gleich an den Sautrog führen, ganz wie es beliebt. Dabei jedoch verliert man Haltung und Klasse, Konvention und Selbstwertgefühl. Und lernt, dass Umstände nicht nur einen Sinn, sondern auch eine Berechtigung haben.

Mach wegen mir bitte keine Umstände.

Sagen sie. Einfach so. Das soll nett klingen: Ach, ich bin doch nur ein Gast, ganz ohne Aufwand, ich komme und gehe, bloss kein grosser Auftritt. Immer schön bescheiden, kein Luxus, keine überbordenden Tafeln, keine grosse Auswahl an Käse und Marmelade, ein Stück Brot tut es auch, es muss gar nicht exklusiv sein. Keine Umstände. Das ist das Credo der modernen Gastlichkeit seitens der Gäste. Und es ist das, was unsereins ins Schleudern bringt, deren ganze Existenzberechtigung auf Umständen, namentlich besonderen Umständen basiert. Normal und ohne Umstände kann jeder Depp. Wir können nicht ohne.

Zumal der Empfang ja ohnehin ein Umstand ist, und zwar ein enormer Umstand. Jeder betretbare Raum muss in Ordnung gebracht werden, Kissen müssen geschüttelt und Wäschereste weggestopft werden, der Spiegel braucht eine Reinigung und die Fenster schreien nach einem Frühlingsputz. Hier ist noch eine Spinnwebe, dort muss der Staubsauger hin, und die Bücherstapel von letzten Museumsbesuch harren noch der Einordnung. Es ist, gerade wenn man als schlechterer Sohn aus besserem Hause einen dynamisch-flexiblen Umgang mit dem Begriff Sauberkeit ebenso pflegt, wie das letztminütliche Absperren der Abstellkammer, ein erheblicher Umstand, die Räumlichkeiten in den angemessen musealen Zustand zu versetzen. Barocke Gemälde dürfen noch herumstehen, aber alles, was an unmässige und schlampige Völlereien erinnert, muss weg.

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Durchgeschwitzt und gerade noch die Betten überzogen habend steht man dann da, all die Umstände der überall gültigen Reinlichkeit so lala, aber nicht nach Mütter oder gar der Putzperle Ideal erledigt habend, und dann kommt der Gast. Und wünscht keine Umstände. Nachdem der schlimmste Teil der Arbeit vollbracht ist, nachdem all das Unangenehme getan wurde, sollen nun keine Umstände mehr folgen.

Dabei sind alle weitergehenden Umstände im Kontext der besseren Gesellschaft eigentlich Arbeitserleichterungen. Umstände machen bedeutet zu wissen, was sich gehört. Umstände sind von nun an aufwandsneutral. Ob ich beste Pralinen beim ersten Haus am Platz reiche, oder Billigschokolade in die Schale fülle: Es macht keinen Mehraufwand. Ob ich das feine Porzellan nehme, das noch feinere Porzellan, mein museales Opaque de Sarreguemines, handbemaltes Geschirr von Paul Vogt oder aber mein billigstes Alltagsporzellan: Es ist der gleiche Aufwand beim Auftragen wie beim Abwaschen. Ob ich Silber nehme oder Edelstahlbesteck nehmen würde, wenn ich so etwas besässe – es ist egal. Ob ich die Betten mit dem wunderbaren Leinen meiner Urgrossmutter beziehe oder mit Kaufhausware – es spielt beim Waschen und Bügeln später keine Rolle, wie auch nicht bei meinen hilflosen Stopfversuchen. Was aber eine evident wichtige Rolle spielt, ist der Anspruch, mit dem ich mir Umstände mache: Ich erfülle die Konventionen. Ob der Gast am Ende Buttermesser und Käsemesser unterscheidet, ob der Vorlegegabeln benutzt, ist seine Sache, ich bin da absolut nicht so: Aber er soll ebenfalls die Möglichkeit haben, die Konventionen zu erfüllen. Denn es ist leicht, vorhandene Dinge nicht zu gebrauchen; unmöglich jedoch ist es, einen Gastgeber auf Versäumnisse hinzuweisen, wenn etwas fehlt.

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Umstände gehobener Art nämlich haben den unschätzbaren Vorteil, dass sie ein Niveau definieren, auf dem man sich und die Wertschätzung des Gastes präsentiert. Es gibt keine Zweifel und keine Unsicherheiten, es drückt alles aus und bedeutet am Ende doch nichts anderes, als dass man immer weiss, woran man gegenseitig ist. Lässt man aber die Umstände beiseite, stellt sich sofort eine so gut wie unlösbare Aufgabe: Was bietet man dem Gast statt dessen an? Wenn er das gehobene Niveau nicht möchte, was will er dann haben?

Hier nun beginnt die Unsicherheit, was den Gast überfordert, und was ihn beleidigt. Was Umstände sind, ist offensichtlich, aber was sind keine Umstände? Nur drei Sorten Käse statt derer fünf vom Markt, oder ist das immer noch zu viel? Ist es doch eher das Käsequartett aus dem Supermarkt, das er bevorzugt, und was wirklich keinerlei Umstände jenseits der Qual an der Kasse mit quengelndem Balg davor und Wodkafreunden dahinter bedeutet? Ist es in Ordnung, gutes Brot in einem Bastkorb zu servieren, oder sollte es nicht etwas Abgepacktes sein? Muss man auf Käsemesser verzichten, um nicht überkanditelt zu erscheinen? Ohne Umstände kann jedes einzelne Detail ein Problem werden, und obendrein ist es in guten Haushalten so gut wie unmöglich, zwischen den guten Umständen und dem normalen, bestossenen Alltagsgeschirr Zwischenstufen zu bilden, die in sich stimmig sind. Aber selbst, wenn es gelänge – wo ist die richtige Zwischenstufe, die den Gast nicht degradiert, und wie gewünscht nachlässig wirkt, ohne es letztendlich mit all den Fragen und Qualen für den Gastgeber zu sein?

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Im Kern wird Unmögliches verlangt; die bessere Gesellschaft soll ein Verhalten vortäuschen, das weder das Ihrige ist, noch es je sein wird. In jenem Moment, da man sich keine Umstände mehr zu machen vortäuscht, täuscht man die Möglichkeit eines sozialen Abstieges vor, man spielt eine Rolle, für die man weder gemacht und erfahren ist. Gleichzeitig aber unterstellt der Gast, dass man gar keine Umstände haben möchte, dass man eigentlich, uneingestanden gerne darauf verzichten würde, wenn es nicht die Konventionen gäbe; es ist eine Art der Nettigkeit, die man von einen schleimigen Bankster kennt, der die Sekretärin bei sich daheim auffordert, die Jacke abzulegen. Das ist kein freundlicher Akt.

Allenfalls vielleicht eine vorgeschobene Begründung, bei der Gegeneinladung nicht mit verhassten und fremden Zwängen, denen man sich nur ungern unterwirft, konfrontiert zu werden. Vielleicht bedeutet es gar nicht, dass man keine Lust auf Formen hat, sondern die Form gar nicht kennt. Vielleicht sind sie Freunde einer Zwanglosigkeit, deren Aufbürdung für den anderen nichts ist als ein Zwang, dem man sich unterwerfen muss: Der Zwang, sich nur ja nicht um andere zu bemühen. Man kann über barocke Silberschalen hinweg bestens amourös werden und aus dem venezianischen Glas Liebeselixiere trinken, man kann Messer in weicher Butter versenken und aus der Marmelade die Kirsche fischen, man kann es förmlich bleiben oder ausarten lassen, wenn es den Gästen gefällt, aber wenn keine Umstände gewünscht sind, warum, warum, fragt man sich bei der Suche nach dem billigen Geschirr in einer Kiste vom letzten Umzug, warum sollte Weitergehendes gewünscht sein.

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Aus dem Dilemma gibt es nur einen einzigen Ausweg, und der führt nicht über die Unterwerfung und Selbstaufgabe des Gastgebers. Natürlich macht man sich Umstände, gerade weil man es nicht tun soll; man kauft ja auch am Samstag neue Pralinen, wenn einem gesagt wird, dass die alten Pralinen noch bis Sonntag reichen. Man tut sich nicht den Aufwand an, einen Nichtaufwand vorzutäuschen und den Gast zu belügen, dass einem dieses Spiel behage, man zeigt, was man hat, man nimmt, was man findet, man serviert, was möglich ist, und stellt die alte Ordnung wieder her, deren Grundgesetz da lautet:

Friss oder stirb. Und: Gegessen wird, was auf den Tisch kommt.

Der Gast hat dann immer noch die Möglichkeit, mit einem entzückten “Oh wie schön, aber das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen”, den geordneten und gesichtswahrenden Rückzug anzutreten, und damit vorzugeben, dass er ja nur das Wohl des Gastgebers im Auge hatte, ihn aber keinesfalls bevormunden oder erniedrigen wollte. Oder er kann in Zukunft sein beleidigtes Geschau unter Menschen vorzuzeigen, die sich auch keine Umstände machen.