Experience the Power within
Werbespruch einer koreanischen Firma für mein sterbendes Mobiltelefon
Mein Grossvater war ein feiner Mann. Mit seinem herrischen und selbstbewussten Auftreten war er noch eine Figur des 19. Jahrhunderts, dem aber auch der Schalck des 20. Jahrhunderts im Nacken sass. Der feine Herr ging öfters jagen, als es sich mit seinem Beruf vertragen hätte, und schrieb dafür als Schalck seinen kerngesunden Kindern Absenzen für die Schule aus. Wenn es Herbst wurde, und der Beruf ihn doch länger an das Haus fesselte, traf er sich oft mit seinen Jagdkumpanen zu Hause. Dort befanden – und befinden – sich vor den Fenstern bis in den zweiten Stock hinauf riesige Weinstöcke, die die Fassade umarmen und vor dem Fenster Trauben wachsen lassen. Klein sind die Früchte, süss und manchmal von Wespen angefressen; die Guten wurden zu Wein gekeltert, der einen schon betrunken machte, wenn man nur die Küche betrat, an deren Fenster die Glasflaschen standen. Die Schlechten – nun, mein Grossvater, der Toni, der Hans und seine Freunde waren Jäger. Sie hatten sich Blasrohre gebastelt, steckten die kleinen Trauben hinein, luhrten aus dem Fenster, und wenn jemand vorbei kam, schoben sie die Rohre sachte hinaus und taten Dinge, die sich nicht wirklich mit dem Ansehen der Familie vertrugen.
Amtsperson und Briefträger, Pelzfrau und Dienstmagd wurden Opfer ihres Schabernacks, und was für ein Vergnügen das gewesen sein muss, ahne ich noch, denn als kleines Kind durfte ich im Herbst auch auf einen Schemel auf dem Balkon meiner Grossmutter klettern und versuchen, Trauben auf die Hüte der Vorbeigehenden fallen zu lassen. Es war eine Mordsgaudi, aber die Zusammenrottung älterer Herren mit Blasrohren an den Fenstern des Piano Nobile muss noch eindrucksvoller gewesen sein. Das Vergnügen hatte nur ein schlagartiges Ende mit dem Dienstschluss der Seelfrau: Die wusch damals noch in der Stadt die angefallenen Leichen, und ging nach der Arbeit die Gasse der damals noch sehr kleinen, sehr dummen Stadt an der Donau hinunter. Mein Opa, der Toni, der Hans und all die anderen gingen sofort weg von den Fenstern, verzogen sich hinter die Vorhänge, denn das Erblicken der Seelfrau galt als böses Omen, und erinnerte sie alle an den Tod.
Mit dem Tod sind wir fertig geworden, mehr oder weniger. Der reale Tod wurde an Krankenhäuser, Sterbestationen und Altersheime “outgesourced”, und im TV gibt es den Ersatztod jeden Tag hundertfach zu betrachten. Der Umgang des modernen Menschen mit dem Tod ist distanziert und nah zugleich; man sieht nur soch selten jemanden sterben, “man hat dem Tod ins Aug gesehen”, wie Villon es sagte, ist es nicht mehr, wenn es nicht zur zunehmend aufgeweichten Tradition der Familien gehört, aber jeden Tag werden eine groteske Anzahl von Menschen in jeder nur denkbar brutalen Art und Weise umgebracht, zwischen Bier und Salzgebäck. Es gibt kein Missvergnügen mit diesem Tod mehr, er ist Amüsement, Zeitvertreib, banal. Aber der Tod wäre keine finale Macht, wenn er nicht andere Mittel und Wege fände, sich aufzudrängen, und so schleicht er sich durch das Unterholz der letzten, verbliebenen Ideologie des 21. Jahrhunderts, den Konsumismus.
In Korea etwa hängen an öffentlichen Gebäuden Plakate, mit dem das seinen Wurzeln beraubte Volk aufgerufen wird, seine alten Mobilfunkgeräte zu entsorgen und für den Staat, die Firmen und den Konsum durch neue Modelle zu ersetzen. Und von einer jener Firmen ist auch jenes Gerät, dem ich mich nicht verschliessen konnte. Vor 6 Jahren galt es als Prestigeobjekt und kostete die Kleinigkeit von 500 Euro, oder tausend Mark, tausend Mark! wie man damals entsetzt sagte, aber die Existenz als Liebling so vieler Jungmanager hinderte es nicht daran, “the power within” auch zu zeigen, Zuerst quoll der Akku in der hinteren Kappe auf, der Druck vergrösserte den Schlitz zum Gehäuse, bald war der Deckel nur noch gewaltsam zu schliessen, und seit ein paar Wochen nun ziert ein Riss die Rückseite, die über kurz oder lang das Gerät zerbrechen wird. Es stirbt.
Andere würden jetzt vielleicht froh sein, endlich ein iPhone kaufen zu können, wie all ihre Freunde, aber ich muss hier eher an Calderon denken: “Du, der Menschen Schönheit, Blume, allzu früh erwacht, welke! Denn in Deinen Morgen dämmert schon hinein die Nacht.” Der grosse Tod des Gerätes wird auch mein kleiner Tod, denn mit “Leben” hat das Bestellen von Ersatz und jene Arbeit, die man dafür investieren muss, anstatt das Dasein zu geniessen, nichts zu tun. Sollte das Gerät ganz marode sein, erlauben sich die Dinge, einem auch noch Stunden für den Datentransfer und die Einarbeitung in neue Technik abzuverlangen. Das ist noch nicht der Tod, aber man muss schon erheblich werbeverblödet sein, um das als “Leben” zu begreifen.
Natürlich lassen sich – jenseits des Flaschensammelns – auch heute noch mit dem Tod der Dinge gute Geschäfte machen, wie auch schon früher mit dem Tod der Menschen. Man lächelt heute vielleicht über all die Stunden, die früher der Totenvorsorge gewidmet waren, den Beichten, dem Ablass, den frommen Stiftungen und den langen Kirchenbesuchen. Der Konsumismus dagegen zwingt seine Gläubigen zu nicht weniger Demütigung vor dem Objekt und seinem Tod, der oft nicht weniger entsetzt zur Kenntnis genommen wird, als man früher die Martern des Herrn und Erlösers Jesus Christus vernahm. Man geht erst gar nicht mehr davon aus, dass einen ein Besitz ein Leben lang begleitet. Statt dessen gibt es eine Art Ursünde, die man Tag für Tag mit Arbeit, Aufladen, Reparieren, Ersetzen und Erneuern der Konsumgegenstände verbringt. Man lächelt über den Aberglauben unserer Vorfahren, und inszeniert medial Gottesdienste für den Erlöser iPad. Man wird ihn bezahlen, weil er das Leben angeblich bereichert, man wird ihn herzeigen, daran leiden, ihn teuer reparieren lassen und dann wegwerfen und ersetzen, aber man blickt trotzdem herab auf die Idioten von früher, die sich von einer Reliquie, einem Knochen, einem teuren Leichenteil und dessen Verehrung eine Verbesserung ihres miesen Daseins versprachen.
Der Tod, das hat der Konsumismus begriffen, muss eingebaut sein. In meiner Jugend gab es eine hochrespektable Firma, die herausragende Rennsättel baute. Einen davon besitze ich seit meinem 17 Lebensjahr, und das Vierteljahrhundert Lebenszeit hat ihm und seiner dicken Lederdecke kaum geschadet. Die gleiche Firma jedoch baut heute Sättel, die an der Stelle mit der höchsten Beanspruchung mit einem Einnäher aus dünnem Stoff bezogen ist, der bequemer sein soll. Das sieht dann nach 1000 Kilometer Benutzung und etwas Nachlässigkeit so aus, wie Baudelaire es beschrieb:
“An eines Weges Bug, im Kieselbett verborgen, lag einen Aases dreiste Schmach…” Das ist, im Gegensatz zu Leder, irreparabel. Und zusammen mit einem anderen, ähnlich gelagerten und kaum reparierbaren Problem auch der Grund, warum jemand ein vor sechs Jahren für über 2000 Euro erworbenes Rad praktisch an mich weggeworfen hat, mit all dem Ärger, den man empfindet, wenn man eigentlich, genau betrachtet, einen Monat nach Abzug aller Abgaben und Steuern gearbeitet hat, um sich das leisten zu können. Ein kleines Opfer für den globalen Konsumismus, aber ein grösserer, kleiner Tod für das kurze Leben des Menschen. Was hätte man in der Zeit nicht alles leben, küssen, lieben… Der Konsumismus macht es seinen Anhängern möglich, schon im Leben eine Todeserfahrung zu haben, wie eine Vision eines Gläubigen beim Verlesen der Leidensgeschichte. Allerdings ist die Erlösung in der Kirche und der Glauben an die Auferstehung erheblich billiger als das, was der Konsumismus für ein Neuprodukt verlangt.
Man redet ja viel über die Technikfeindlichkeit der Eliten und ihre stiernackige Resignation, wenn sie von neuen Wellen des Fortschritts überspült werden, von ihrer Verachtung für neue Technik und all die Verlockungen neuer Möglichkeiten. Vielleicht ist es aber auch nur so, dass dieser Ablehnung die schale Ahnung vom Wesen des Fortschritts zugrunde liegt, der nicht einfach nur kommt, sondern kommen muss, weil das Alte zwangsläufig und beabsichtigt sterben muss. Je mehr modernes Zeug man in das Leben holt, desto schneller muss man es ersetzen, desto unbeständiger, gebrochener und töter wird das Dasein. “Da kann man mit allen Freunden in Kontakt bleiben”, sagte mir vor ein paar Jahren ein Bekannter, als das Netzwerk Friendster Furore machte. Seitdem musste er stets unter Verlust von Bekannten auf myspace, lokalisten, second life, studivz, werkenntwen, facebook und inzwischen auch twitter umsatteln, stets unter Hinterlassung toter Accounts und Identitäten, die ihm früher etwas bedeuteten, und heute wertlos sind; kleine Tode, jedes Jahr einer, und so richtig besser wurde sein reales Leben auch nicht – nur älter sind wir beide geworden.
Der Gegenentwurf, die oft schon fast ans Manische grenzende Bewahrung des Alten und das Leben mit der sehr langsamen, einen aber überlebenden Vergänglichkeit, mag kaum weniger unvernünftig sein, auch das ist eine Flucht vor dem Tod, nur nicht nach vorne in die Zukunft, sondern zurück in die Tradition und die Vergangenheit. Allerdings ist sie erheblich billiger und nicht so stressig, man rennt nicht nach, man bleibt einfach stehen. Die Natur des Todes in uns bringt es mit sich, dass wir alle einst stehen bleiben werden, es schadet also nicht, früh damit anzufangen und lieber darauf zu warten, als sich mit hoher Geschwindigkeit dorthin zu begeben, und am Wegesrand immer neue Identitäten, Erscheinungsformen, Moden und Übertreibungen auszuprobieren. Mit beiden Wegen kann man zufrieden sein, vielleicht rennt man sogar schneller als jede Erkenntnis und alle Angst dieser Welt und alle Sorgen. So schnell, dass man kaum die Falten in den Gesichtern der anderen Berufsjugendlichen sieht, die mit über 40 immer noch den billigsten Döner suchen, um gleich weiterzuhetzen, zum nächsten tollen Gerät, zur nächsten Aufspielung neuer Programme und zum Projekt, mit dem man das alles finanziert.
Sicher, all die technikresistenten Menschen ohne virtuelles Netzwerk in den Westvierteln versäumen etwas. Eine Religion, in der es keinen Tod mehr gibt, sondern nur noch Auferstehung, keine Sünden, sondern nur noch Erlösung, kein Gut und Böse, sondern nur noch den Weg zum Besseren, keine Feimde, sondern nur noch Freunde, keine unangenehme Realität, sondern nur noch das, was einem gefällt. Und sie sterben auch, sie sehen den Totentanz der Dinge, sie ärgern sich und sind froh, wenn der Kleiderschrank von der Grossmutter noch hält, oder von einem Kind mitgenommen wird. Am Ende sind sie tot, wie auch der Toni und der Hans und die Seelfrau und ich. Aber falls jemals so ein Technikgläubiger an meinem Haus mit dem Weinstock vorbeigeht, möchte ich eine faule Traube haben, und ein Blasrohr, und ihn an den Tod erinnern. Heimtückisch und von hinten, wie der Tod nun mal ist.