Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die Selbstverteidigung gegen die Beschleunigung

Im Laufe der letzten Jahrzehnte musste sich die bessere Gesellschaft von allerlei Gewissheiten verabschieden: Religion, bürgerliche Parteien, Wagnerinszenierungen und der Bund für das Leben - das alles ist nicht mehr, was es einmal war. Reichlich spät erfolgt nun auch die Trennung vom Götzen der Geschwindigkeit. Das war mal eine heisse Liebe, aber nun will man nur noch weg, oder wenigstens zurück in die Zeiten, da es noch schön war.

Tut mir leid, mein Lieber, ich habe keine Zeit.
Luigi Pirandello, Mahnung zur Pflicht

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Es gibt ein Foto eines lange verstorbenen Verwandten im Radsportverein, aufgenommen um 1900: Seine Bekannten haben Rennräder, aber er sitzt bereits reichlich stolz auf einem Motorrad. Dieser Vorsprung lässt sich in den Familienalben fortführen, da sieht man Adler-Automobile und später auch den ein oder anderen Mercedes, es sind immer Autos, die nicht jeder hat, und sie sind immer schneller als viele andere. Nach dem Krieg ist da auch auf zwei Rädern eine Norton 500 zu sehen, eine schwere BMW und anderes Gerät, das reichlich gefährlich aussieht. Und immer gab es in besseren Kreisen einen, der es übertrieb und dabei auf der Strecke blieb, sich nach der Kurve am Zaun den Kopf abriss oder kurz vor dem Brenner einen Abhang hinunter stürzte. Es änderte nichts daran, dass ein paar Jahre später alle wieder schnellere Autos hatten. Angefangen bei dem Moment der bürgerlichen Emanzipation im frühen 19. Jahrhundert, da es so etwas wie Reisefreiheit gab, ist der Anstieg der Geschwindigkeit im Gleichschritt mit dem Aufstieg des Bürgertums, und hier besonders des besseren Bürgertums, zur letzten verbliebenen Klasse, die unsere westlichen Gesellschaften dominiert.

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Natürlich gibt es bei dieser Überlegung einen Haken, und der ist gross, braun und unerfreulich: Besonders um die Beschleunigung verdient gemacht haben sich die totalitären Regimes der Dritten Reiches und des italienischen Faschismus, deren Maschinen auf der Mille Miglia letzte Woche wieder zum Leben erwachten. Einige totalitäre Wegbereiter wie der Futurist Marinetti und der Dichter d’Annunzio definierten die Geschwindigkeit Anfangs des 20. Jahrhunderts noch als neue Schönheit, die sie auch wegtragen sollte, vom der Verhärtung der verschnarchten Bürgerlichkeit. Doch auch diese langweiligen Zeitgenossen achteten nicht auf die exklusiven Wünsche der Futuristen, blieben nicht stehen, und gaben ordentlich Gas. Geschwindigkeit verkleinerte Reisewege und enthob der Mühsal, immer an einem Ort bleiben zu müssen, sie machte den Menschen gefühlt zum Herrn über Raum und damit auch Zeit, sie galt per se als “gut”, genauso wie Langsamkeit zum Kainsmal wurde.

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Die Geschwindigkeit wurde zum Motor der Veränderung: Aus dem Taschenuhren, die mühsam aus den Westentaschen hervorgekramt wurden, entwickelten sich die Armbanduhren, Viertel und Städte wurden im Hinblick auf schnelle Durchfahrbarkeit entwickelt, und genauso wurden die Schnitte in den Filmen schneller, die Einstellungen wechselten dauernd, die Musik der Jugend zog auf 120 bpm an, und in den Ministerien überlegte man, wie man sie ein Jahr schneller zum Abitur jagt. Es ist ein ziemlich weiter Weg von den tollkühnen Rennfahrern in unsicheren Automobilen, die mehr als 130 Kilometer pro Stunde über staubige Landstrassen Italiens fuhren, bis zur Scheinwelt der allgemein üblichen Spielkonsolen, in der jedes Verweilen keine Option mehr ist, und ständig Reaktionen verlangt werden. Früher war Geschwindigkeit ein Privileg. Heute ist sie Stress, Zwang, Druck, Ideologie. Für alle. Geschwindigkeit ist kein Privileg mehr, sondern Pflicht.

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Es ist nicht so, dass es dagegen eine Rebellion geben würde. Aber spätestens mit dem achtstufigen Gymnasium machte sich in besseren Kreisen allgemein die Erkenntnis breit, dass man für die Beschleunigung zur Kasse gebeten wird. Andere Aspekte hatte man eine Weile neutralisieren können; die Strassen der Westviertel sind immer verkehrsberuhigt, oder wie bei mir am Tegernsee, gleich Anlieger- oder Privatstrassen. Geschwindigkeit wird ausgelagert und anderen zugemutet, wenn sie denn überhaupt noch praktiziert wird: All die Mütter, die vor meinem Haus auf die Töchter in der Schule warten, zeichnen sich eher dadurch aus, dass sie schon eine halbe Stunde vor Schulschluss im absoluten Halteverbot vor meiner Einfahrt stehen.

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Folglich kann man mit Geschwindigkeit auch niemanden mehr wirklich beeindrucken. Autos werden bei 250 abgeriegelt, die Concorde fliegt nicht mehr, ICEs sind bestenfalls im Fahrplan, und Schiffe konkurrieren nicht mehr um blaue Bänder. Geschwindigkeit muss nicht mehr um jeden Preis sein, die Frage ist eher: Was macht man mit der Zeit, die man durch Geschwindigkeit gewinnt. Oder auch: Ist man eine der bedauernswerten Gestalten, die schnell sein müssen, um die Zeit im nächsten schnellen Vorgang einem Leben ohne Rast zu opfern. Ist man noch Herr der Geschwindigkeit, oder ihr Sklave.

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Darauf gibt es in einer Welt der hohen Geschwindigkeit wohl erst nach dem Ende der Verwendbarkeit im Altersheim eine klare Antwort, die dann auch nicht mehr viel bringt. Dem Rest wohnt zunehmend der Wunsch inne, in diesem System entweder eine Bremse zu finden, oder wenigstens einen Notausgang: Denn mit Blackberry und Weltmärkten gibt es keine Verzögerungen mehr, und kein Versteck vor der Agenda. Es ist bezeichnend, dass sich das Faszinosum der Geschwindigkeit genau in jener Epoche verflüchtigt hat, da man  nicht mehr einen Tag Zeit hatte, auf einen Brief zu antworten, weil es reichte, um die Antwort rechtzeitig zur Post zu bringen; in einer Zeit, in der man nicht mehr nachher konnte, sondern sofort musste. Internetesoteriker rufen gerade das Echtzeitweb aus, in dem es keinen Zeitunterschied zwischen realen Erlebnissen und deren Abbildung im Netz gibt, was wohl wirklich im Kommen ist. Aber wenn es alle tun werden und tun müssen, stellt sich eher die Frage, wie man sich davon distanziert und dem Zwang entgeht, denn Zwang ist immer Unterschicht.

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Als hätte es noch einen  bestimmenden Auslöser gebraucht, ist nur auch noch die beschleunigte Finanzwirtschaft so freundlich, auch die Besitzenden daran zu erinnern, wie schnell es mit der Währung und dem Vermögen vorbei sein kann. Sei es, weil der Stadtkämmerer das Geld der Bibliotheken mit kruden Derivaten verzockte, die gestern noch erstklassig waren, und heute verdampft sind, sei es, dass irgendein Programm in einem fernen Land in Bruchteilen von Sekunden entscheidet, hochvolatile Werte oder ganze Währungen abstürzen zu lassen. Die Finanzkrise ist nun schon im dritten Jahr, sie frisst sich rasend schnell durch alle Bereiche, und im Kern ist die Frage nach beständigen Werten, in die man flüchten kann, auch die Frage nach einem Ausstieg aus der Geschwindigkeit der Märkte.

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Wie immer gibt es da zwei Ansätze: Den der weitestgehenden Verweigerung und den der Suche nach dem ehemals richtigen Mass, eine Vita contemplativa und eine Vita activa, Weltflucht und Systemregulierung. Beides geht von der irrigen Annahme aus, es wäre möglich, sich vom Rest abzukoppeln – in Wahrheit ist es nur möglich, wenn man die nötigen Mittel hat, um diese Befreiung und ihre Nachteile auch zu bezahlen. Es ist deshalb ein reines Oberschichtenphänomen, mit teilweise erstaunlich effektiven Selbstsuggestionen.

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Da ist im Bereich der Entsagung der Kult um das langsame Einkaufen, Auswählen, Zubereiten und Verspeisen von Nahrung, angefangen beim kenntnisreich erworbenen tibetanischen Steinsalz über langes Garen bis zu überreich gedeckten Tischen, auf denen jedes Detail besagt, dass die Verantwortliche alle Zeit der Welt hatte, das alles zu bereiten. Die Slow Food Bewegung wäre nie so erfolgreich geworden, würde sie nicht den Essenden das Gefühl vermitteln, nicht effizient mit ihrer Zeit umgehen zu müssen. Es kann dabei als Bestätigung des Beständigen nicht schaden, Herrenjacken mit Lederflicken an den Ärmeln zu versehen, oder mit der Landhausmode die gute, alte Zeit zu beschwören, bevor Frauen Hosen trugen, um sich auf Motorräder zu schwingen.

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Die andere Alternative ist die Suche nach der alten Faszination der Geschwindigkeit, die irgendwann in den 90er Jahren verloren gegangen ist. Das sind die ewigen Verlierer gegen Rost und Fäulnis, die alte, stinkende Autos für Wertgegenstände und anfällige Mahagoniboote für stilsicher halten, es sind die Schwärmer, die am Achensee mit der Dampflock fahren, oder den Glacier-Express durch die Schweiz nehmen. Ganze Berufszweige tun nichts anderes, als von den aktuellen Geschwindigkeiten angeödeten Besserverdiendenden Traumwelten mit alternativen Realitäten zu erfinden, die natürlich nichts an der weiteren Beschleunigung und Hektik des Daseins der Anderen ändert, aber den Eindruck vermitteln, man könnte dem allen mit dem Umdrehen eines Zündschlüssels oder dem Winken nach einem Kofferträger entgehen. Es stimmt nicht. 

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Aber ich habe auch einen zweifarbig grünen Wagen von 1955, der oft stehen bleibt, zudem ein altes, ziemlich undichtes Faltboot, ich wohne in einem Kaff an einem Bergsee mit staatlich alimentierten Kühen auf der Weide vor meiner Terrasse, und ich koche gerne für Gäste zwei, drei Stunden in grob karieren Sakkos mit Lederflicken an den Ärmeln, und schon beim in Parma erbeuteten Pecorino mit Akazienhonig kann man wirklich vorzüglich all jene vergessen, die über diese Möglichkeiten zwischen Essen aus der Microwelle und Projektvorstellung für noch mehr Beschleunigung am nächsten Morgen nicht verfügen. Es ist mehr so, dass die Schnellen die Langsamen fressen. Die Langsamen warten, bis sich die Schnellen zu Tode gehetzt haben. Und fahren dann mit dem Sunbeam nach Südfrankreich.