Die Welt ist meine Auster
Shakespeare, Die lustigen Weiber von Windsor
Und dann naht die Stunde des Aufbruchs, und mit ihr der prosaische Teil des Geschehens. Es ist dem Menschen zueigen, das Ausziehen zu einem Fest der Leidenschaften zu machen, das sogar öffentlich aufgeführt werden kann; das Anziehen jedoch hat immer etwas Lustloses an sich, das dem Vorgang fast jeden Reiz rauben kann. Es gebricht dem Anziehen an einem unvermeidlichen Ziel, mal abgesehen vielleicht von einem Zug, der erreicht werden muss, oder einem einzuhaltenden Termin, es muss sein, aber es muss nicht sein wie die Hingabe und die Erfüllung, die die Nacht davor durchglühten und jenes Schlachtfeld der in meinen Kreisen stets exquisiten Kleidungsstücke hinterliess, in dem nun nach den Trümmern des gestern so verlockenden Äusseren gesucht wird.
Mit etwas ebenfalls meinen Kreisen vorbehaltenem Glück jedoch ist der erste Griff gar nicht zur Kleidung, sondern zur sorgsam neben dem Bett deponierten Perlenkette, die erst ganz zum Schluss gefallen ist, da sie naturgemäss nicht wie anderes in diesen Momenten störte, und nun ist es ganz am Betrachter, die Gedanken schweifen zu lassen zu den nackten Sphinxen im Rokokogarten von Veitshöchheim, deren Brüste unter dem in vielen Reihen fallenden Perlenschmuck hervorquellen, und zu die Nackten von Giulio Romano, um die sich Perlenketten winden, und zu all den anderen Frauen durch Welt- und Kunstgeschichte, denen die Perlen das Wichtigste waren, so wichtig, dass sie sich nur mit Perlen bekleidet, und sonst nackt malen liessen. Dass auch die Mönche die goldenen Buchdeckel ihrer lustfeindlichen Schriften mit Perlen verzierten, kann einem immer noch einfallen, wenn man sich am Bahnhof Lebewohl gesagt hat, und der Zug in der Ferne verschwindet. Gleich nach dem Erheben jedoch ist die Perlenkette für ein paar Momente das einzige Kleidungsstück, und in diesen delikaten Augenblicken, wo das Weiss der Muschel auf der Haut schimmert und dem Hals schmeichelt, ist die alte Kontinuität des Luxus der Perle der Frau wieder vorhanden. Dann findet sie einen Schuh – wo ist denn der andere? – und die Illusion zerstaubt ins Nichts der Banalität.
In jene Banalität, in der sich die Fehlentwicklungen meist asiatischer Muscheln schon etwas länger nach menschlichem Ermessen befinden. Neben Gold, Silber und einigen wenigen Edelsteinen haben Perlen die längste Geschichte in der erstaunlichen menschlichen Eigenart, Status und Besitz durch das Selbstbehängen mit dergleichen auszudrücken. Mehr noch als Edelmetalle war die Verfügbarkeit der schimmernden Kügelchen in Europa begrenzt, und erst mit dem Fernhandel der frühen Neuzeit wurden sie so zahlreich, dass man daran gehen konnte, sie zahlreich an Frauen zu hängen. Im Rokoko waren sie dann überall: In den Haaren, an den Armen und Gewandsäumen, eingenäht im Stoff und in grossen Tränen an dem Ohren. Dann kam die bürgerliche Revolution und das Biedermeier, der Prunk verschwand, aber zumindest die Perlenkette blieb. Bis in meine Jugend.
Dann waren die Perlen dank Zuchtmethoden wirklich überall verfügbar. Auch am Hals von S., die von ihrer dünkelhaften Mutter in einen aussichtslosen Karriereversuch als Eiskunstläuferin getrieben wurde. Oder am Hals von H., die in Passau BWL studieren ging, weil sie reich werden und eigentlich nicht als die mittelmässig erfolglose Betreuerin eines Mütternetzwerks enden wollte, die sie nun ist – immer noch mit Perlenkette auf dem Bild ihrer Webseite. Attraktiv und begehrenswert ist, wenn man die kunstgeschichtliche Bedeutung nicht kennt, etwas anders. Und wenn man die Geschichte kennt, sind die billigen Glasperlen an den Hälsen von nicht wirklich besseren Töchtern auch nicht die Erfüllung einer historischen Mission.
Die anderen, vom Adel übernommenen Insignien des grossbürgerlichen Reichtums – Ice Cubes an den Fingern der Frauen, Silber in den Schränken und Gold in Schweizer Tresoren – haben sich praktisch bruchlos erhalten, aber die Perlenketten sind herabgesunken zum Geschirr der kleinen, weiblichen Packeseln des globalisierten Geschäftsbetriebs, die willig ihre Überstunden durch das Jahr mitschleppen und an der Rezeption auch dem unangenehmsten Gast ein Lächeln schenken. Schwarzes Kostüm und Perlenkette geht immer irgendwie, von der Präsentation bis zum Sushi, vom ICE bis zu jenem Moment, da sie zum Pulli greifen und Sendungen der Privaten betrachten, während die Microwelle das Kochen übernimmt. Da liegt kein Luxus mehr um den Hals, sondern ein Identitätsmerkmal der zur Erwerbsarbeit Verdammten, keine Reinheit, sondern LassmichinRuhe, keine Verschwendung, sondern die Ökonomie des Nützlichen.
Der Bedeutungswandel macht nicht bei den einzelnen dezent schimmernden und möglichst nicht auffallenden Kugeln halt, er kommt erst bei ihrer gleichförmigen Aufreihung zum Tragen: Uniformität, Monotonie, Angepasstheit, nur ja nicht vom Mittelweg abweichen, das sagen die immer gleichen Perlen, ein ideales Symbol für all die gesichtslosen Funktionsfrauen in Büros und Etagen, die alle auf ihre Figur achten, ihre Arbeit gut machen, die Einkommensnachteile schlucken und so freundlich sind, ihre Krankheiten, solange es nicht Magersucht ist, im Urlaub auszukurieren. Im Rokoko, als die Perlen noch mühsam ertaucht und unermesslich teuer bezahlt werden mussten, sagten gleichförmige Ketten etwas ganz anderes aus: Sehr her, wir können es uns leisten, unter den seltensten Reichtümern immer noch jene auszusuchen, die wirklich passen, wir sind selbst hier noch wählerisch, wir müssen keine Kompromisse eingehen. Was sich üppig durch die Frisuren des Rokoko schlang, war das glatte Gegenteil der verhuschten Aussage, die heute mit den traurigen Resten dieser Mode einhergeht.
So gesehen müsste der frühere Ausweis von hemmungslosem Luxus heute schon fast von der Steuer absetzbar sein, denn nicht einmal mehr Grossmutters Gier und Launen wohnt im inne, mit denen Grossvater bewogen wurde, den Juwelier aufzusuchen und dergleichen zu verschenken, zu seiner eigenen Seelenruhe. Eine – zugebenermassen schmuck-, schuh und abendkleidsüchtige – Freundin nutzt den Paradigmenwechsel in diesen Familien, um bei den Enkelinnen jene Ketten abzuholen, die sie aus dem Nachlass bekommen und doch nie tragen, weil sie ihnen gar zu spiessig vorkommen – vielleicht, weil sie nichts von den Dramen und Verführungen ahnen, mit denen die alten Damen in jungen Jahren bekamen, was sie wollten. Jeder grossmütterlichen Perlenkette wohnt so mehr Auflehnung und Erregung inne, als dem büromodischen, allgegenwärtigen BWL-Accessiore.
Natürlich gibt es auch eine andere Sicht der Dinge: Dass dieser Wandel mit der Emanzipation einher geht, dass Frauen nicht nur Lustobjekte sind, die man mit Tand für Wohlverhalten behängt, oder Tauschgegenstände der Clanstrukturen, deren Schmuck lediglich eine Falle für anderer Familien Söhne ist. Der Sinngehalt der Perle, das Reine, Unberührte, Saubere, das in den tiefen der Muschel unschuldig schlummert, ist in Zeiten des allgegenwärtigen Sex mehr als nur überholt. Mit etwas Glück ist die Perlenkette immer noch ein Statussymbol, und damit ein Ausweis der besseren Tochter und ihrer moralischen Disposition, von der man keine Piercings, sondern allenfalls eine verhängnisvolle Neigung zu Opern von Wagner zu befürchten hat. Und was früher, vor vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten an Grandezza, Verschwendung und Arroganz der Klasse einst gewesen sein sollte, kann sich der geneigte Betrachter beim Aufstehen immer noch selbst suggerieren, wenn durch ein gnädiges Schicksal für ein paar Momente doch wieder die barocke Verruchtheit der Perle als einziges Kleidungsstück erschimmert
Der andere Schuh ist unter dem eigenen Hemd, dessen Emporhalten nun signalisiert, dass es Zeit ist, sich ebenfalls zu bekleiden. Nun denn.