Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Davoser Kanten für bessere Kreise

Es gibt im bürgerlichen Umfeld Worte, bei denen stets ein besonderer Subtext mitschwingt: Am See (Gute Wohnlage). Ostdeutschland (Niemals). Scheidung (Man hat es ja immer schon gesagt). Arzt (Idealer Mieter). Schweiz (Geld vor dem Finanzminister retten). Davos (Mann, Zauberberg, schick, Wintersport). In Davos war ich gerade, aber es war Mai und und nicht Winter, weshalb ich den Ort auch ohne gnädige Schneedecke sah. Und mich frage, warum manche da Wohneigentum kaufen.

Oh, oh, was ist denn das für eine Seligkeit von Licht, von tiefer Himmelsreinheit, von sonniger Wasserfrische.
Thomas Mann, Der Zauberberg

Das hier ist der Ortseingang.

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Das ist ein paar Meter weiter.

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Das ist ein weiterer Blick, etwas die Strasse runter.

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Noch ein paar Schritte, mittlerweile im Ortskern einer Ansiedlung, die man in gängigen Westvierteln nur nach Ansicht der Gebäude als Wohnstatt von “Baracklern” interpretieren würde. Tatsächlich sieht hier manches so aus, wie neuere Sozialbauten meiner dummen, kleinen Heimatstadt an der Donau.

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Ein paar Kilometer weiter, auf den Steinwüsten oberhalb des Flüelapasses, kann man betrachten, wie die Klimaerwärmung die Gletscher der Alpen umgebracht hat. Hier unten, in Davos, kann man sehen, was die mit der Klimaerwärmung einhergehende Globalisierung mit dem besseren Bürgertum, wie es sich bis heute gern selbst in bester Tradition sieht, gemacht hat. Denn Davos ist 2010 nicht weniger Steinwüste als die Hänge des Weisshorns, die gerade noch gnädig von etwas Restschnee bedeckt werden. Und hat, Geschichte hin, Immobilienpreise her, so gut wie nichts mehr mit dem zu tun, für was es einmal in den besseren Kreisen von London bis Laibach stand.

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In jenen Zeiten vor dem zweiten, und besonders dem ersten Weltkrieg, war Davos tatsächlich noch ein Ort, den man gesehen haben musste, wenn man es sich leisten konnte, und man obendrein an Lungentuberkulose – oder, wie man damals sagte, Schwindsucht – erkrankt war. Obwohl es eine Krankheit vornehmlich der Armen in Ballungszentren war, betraf die “weisse Pest” auch Angehörige der besseren Kreise, und so oder so bedeutete sie in aller Regel ein Todesurteil nach einem elenden Dahinsiechen. Bis sich um 1878 wie ein Lauffeuer die Kunde verbreitete, dass im kleinen Bergkaff Davos in Graubünden ein Klima herrschte, das die Menschen auf wundersame Weise wieder gesund machte, solange sie sich dort einen Aufenthalt und lange Monate oder gar Jahre auf den Balkons in der lindernden Luft leisten konnten.

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In der Folge wurde der Aufenthalt in Davos so etwas wie das ultimative Distinktionsmerkmal zwischen Arm und Reich: Die einen krepierten in ihren verseuchten Löchern, die anderen bauten sich hübsche Hotels, Sanatorien und Villen und überlebten – oder starben zumindest mit schöner Aussicht und in bester Gesellschaft. Damals muss Davos recht prächtig ausgesehen haben, eine lustige Stilmischung des Historismus mit Holz, Fachwerk, Türmchen, Kuppeln, nachgeahmten Bergbauernhäusern und kleinen Palästen. Davos war eine Tabula Rasa, auf der sich das internationale Bürgertum Denkmäler setzen konnte. Die Briten brachten sogar eine Kirche im neonormannischen Stil mit in die Berge. Und Grand Hotels nach neuestem Geschmack und für höchste Ansprüche, die man so auch in Brighton, an der Bretagne, an der Riviera und allen anderen Orten finden konnte – man war zwar im Ausland, aber dennoch stets daheim.

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Das englische Viertel gibt es unter all den Betonklötzen immer noch. Teilweise. Am Südhang stehen einzelne Villen, manchmal sogar vier oder fünf nebeneinander, unter diversen Neubauten. Rechts ist alles noch bewohnt, links dagegen sind die Fenster staubig und blind, und kein Stuhl steht auf den Balkonen mehr. Danach kommen gleich wieder die neuen Strukturen, ganz ohne Jugendstilschnörkel und grosse Vergangenheit, sogar das Vorbild für das Sanatorium aus dem Zauberberg von Thomas Mann ist heute längst im neuen Stil, rechteckig, gerade, kantig, man wäre wirklich überrascht, darin noch eine sieche Russin anzutreffen, schon eher die Gattin eines Oligarchen aus dem Aluminiumgeschäft mit drei Mobiltelefonen, auf dem Weg zur nächsten Wellnessbehandlung.

Man mag es verschmerzen; diese weltliterarische Bedeutung von Davos beruht ohnehin auf einem groben Missverständnis, denn als der Zauberberg erschien und als ironischer Nachruf einer untergegangene Bürgergesellschaft in jedes Bücherregal Eingang fand, war man in Davon wenig angetan. Genauer: Man empfand die Schilderung des Ortes als so dem Ruf abträglich, dass man Erich Kästner anheuerte, um eine Antwort darauf zu verfassen. Heute ist das ganz anders, der “Zauberberg” wird nächtlich illuminiert, eine Bar beim Casino trägt in Leuchtschrift diesen Namen, und weil das Bürgertum  gemeinhin nichts liest, was im Bücherschrank sein muss, hat es dem Ruf von Davos auch nicht geschadet. Dort, wo in Deutschland analphabetenfreundlich eine Umrisskarte der Insel Sylt auf den Autos prangt, kündet in der Schweiz oft der Schriftzug Davos von einem grossen Namen, der von seiner Faszination erstaunlicherweise noch immer nicht so viel verloren hat, als dass man nicht Preise ab 6000 Euro für den Quadratmeter selbst in schlechten Lagen zahlen muss – und das, obwohl es in all der Betonkantigkeit ohnehin schwer ist, den Unterschied zwischen guten und schlechten Gebäuden schnell zu begreifen.

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Sehr schlecht jedenfalls müssen die luxuriösen Hotels Bernina, Angleterre, Viktoria und Carlton gewesen sein, die in der Zeit um 1900 den Ruhm des Ortes gemehrt haben. Nur das Hotel Belvedere existiert noch und offeriert in der Trattoria gerade “Leichte Pasta-Gerichte zum Top-Preis-Leistungsverhältnis”. Die anderen Hotels wurden wie in jüngster Zeit einige alte Sanatorien abgerissen, zugunsten neuer, kantiger Investitionsobjekte, die man hier erwerben kann. Für Einheimische gibt es Rabatte, von Ausländern nimmt man den vollen Preis. Es muss sich immer noch lohnen, der Ruf des alten Davos ist immer noch gut genug, anders kann man all die Baukräne über dem Tal nicht begreifen. Dabei ist Davos in diesen Maientagen reichlich tot und wenig erbaulich, die Hauptreisezeit ist der Winter, und jene schönen Blumenwiesen, auf denen man wandern könnte, liegen weitaus tiefer in den Bergen Graubündens. Oberhalb von Davos wird es karg und steinig, und wäre da nicht die legendäre Aura und das Elend der immer gleichen Einkaufsfreuden, könnte man sich nur schlecht erklären, was hier eigentlich das Besondere sein soll, als unmässig viel kantiges Beton im internationalen Stil der Profitmaximierung, und der Kongress “Interntional Desaster and Risk Conference”, der das Bild sehr stimmig abschliesst.

Doch mögen auch die alten Kolonien der Engländer, Russen und Deutschen auf der Suche nach frischer Luft zum Überleben verschwunden sein, so drängen jetzt andere nach: Diejenigen Begünstigten des Kapitalanhäufung, denen die Einkommenssteuerminderung so wichtig wie die Luft zum Atmen ist. Herrschaften aus nichteuropäischen Ländern, in denen die Tuberkulose heute noch eine Volkskrankheit aufgrund der manchesterkapitalistischen Zustände ist, deren Heilung sich dort kaum einer leisten kann, selbst wenn er dafür nicht mehr Monate auf den Balkonen der Kurorte liegen müsste. Eine Tradition zu den längst verschwundenen Alteuropäern gibt es da nur in negativer Hinsicht, aber der Name des Ortes allein verspricht, diesen Makel ein wenig zu bereinigen, und Verbindungslinien zu schaffen, wo keine sind. Man kauft hier nicht nur einen quadratischen Klotz, der, wäre er daheim, als unbewohnbar gelten würde. Man kauft ein Stück europäische Tradition. Unter all den Kurorten des frühen 20. Jahrhunderts hat es Davos geschafft, berühmt zu bleiben, weil es berühmt ist, und dadurch eine Anziehungskraft zu entwickeln, die anderen Orten fehlt.

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Und so zerfallen die Villen in Stresa am Lago Mggiore sanfter, als die Abrissbirnen in Davos Platz für Neues schaffen, so kann man in Riva am Gardasee verwunschene Viertel entdecken, die es unter dem Zauberberg längst nicht mehr gibt, und keine Modearchitekten kämen in Badgastein auf die Idee, einen hier im Tal geplanten Hochhausturm in die Landschaft zu setzten. Davos hatte zu seiner Zeit nicht den allerbesten Namen unter den Zielen der besseren Gesellschaft, zu sehr erinnerte der Namen an das Husten und das qualvolle Ersticken, aber es zusammen mit St. Moritz besser ist im Gedächtnis geblieben als Brennerbad, Obermais, Tegernsee, Arco, Ischgl, Kreuth, Gardone Riviera, Como und all die anderen grossen Namen der Belle Epoque, die den Kampf gegen den Fernreisetourismus und die globalen Luxusressorts längst verloren haben, aber dafür auch nicht wie Davos aussehen.

Man kann es natürlich auch positiv ausdrücken: Allein die Reminiszenz der grossen, alten Bürgerlichkeit Europas zieht heute immer noch die neuen Eliten in die Berge und verschliesst ihnen die Augen für die Zweifelhaftigkeit des Unterfangens. Das Bürgertum funktioniert zumindest noch als Marketingtrick. Gut für Davos. Schlimm für das Bürgertum, das in der Person des Autors dann doch lieber abbiegt und zum Flüelapass hinauf fährt.

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