Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Der kleine Giftschrank der feinen Damen

Es gab einmal eine Zeit lange vor Aktien und Internet, da waren Bildung und Konversationskunst herausragende Qualitäten von Angehörigen besserer Kreise. Belesenheit hatte einen Wert bei der Suche nach Geschlechtspartnern, und die Anzahl der Bücher war wichtiger als die Menge der Freunde bei asozialen Netzwerken. Ausserdem warf man sich nicht gleich dem nächsten Stalker an den Hals, sondern erwartete, dass der Herr in der Lage ist, die Dame angemessen zu umwerben. Um dabei zu helfen, oder Schaden für den Ruf abzuwehren, gab es sogar sprechende und diskrete Möbel, von denen eines hier vorzustellen mir eine grosse Freude ist.

Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten
(trad.)

Die freie Marktwirtschaft behauptet, sie würde jedes Bedürfnis zum günstigen Preis befriedigen und allen das geben, was sie wollten – solange sie nicht gerade in Afrika verhungern, von Hartz IV (demnächst nach Meinung von Frau Merkel noch schlechter) leben müssen, oder ein Faible für praktisch nicht zu findende Nachgüsse griechischer Büsten haben, möchte man hinzufügen, denn in vielen Bereichen herrscht blanke Not für Arm und Reich gleichermassen. Zudem ist der Kapitalismus immer noch unfähig, etwas anderes als das Jetzt herzustellen. Weder vermag er, zukunftssichere Computer, Speicherkarten und so etwas scheinbar banales wie Jahrhunderte klaglos funktionierende Türen zu liefern – etwas, das um 1600 noch vollkommen problemlos möglich war. Noch ist er in der Lage, Vergangenes herzustellen. Dafür kann er nichts, keine Frage, aber die Behauptung, er könne alles irgendwie – die ist falsch.

Bild zu:  Der kleine Giftschrank der feinen DamenIn Wirklichkeit kann der Kapitalismus lediglich eine aufgemalte Vielfalt über strengen Normen herstellen. Die Massenproduktion und der Maschineneinsatz zwingen zuerst zu einer starken Reduktion von Form und Gestalt, und man muss sich fragen, ob das Verschleifen von äusseren Unterschieden zwischen Arm und Reich, Mann und Frau gar nicht so sehr dem gesellschaftlichen Fortschritt, sondern vor allem der Unfähigkeit des Kapitalismus zuzuschreiben sind, unterschiedliche Normen günstig zu produzieren. Am Ende kommt eine Farbe, ein Bapperl und ein Marketing drauf, das die Produkte teuer oder billig macht, oder für Männer oder Frauen geeignet scheinen lässt. Schwarzes Notebook: Mann. Schwarzes Notebook mit rosa Rückseite und 7 Glitzersteinen: Frau. Anderes, wie etwa die kleine, zarte, nebenstehende Buchvitrine auf Pfeilerbeinen aus der Zeit um 1820 ist ein dezidiertes Damenmöbel – und heute ausgerottet. Gehen Sie mal in ein beliebiges Möbelgeschäft und verlangen sie eine Pfeilerbüchervitrine aus Nussholz, massiv natürlich, um sie einer lieben Freundin zu schenken. Es geht nicht. Und das, obwohl diese Vitrine eines der entzückendsten Damenmöbel ist, die man sich vorstellen kann: Sie ist ein sprechendes Möbel, und die Besitzerin kann damit Gespräche lenken und dezent ihre Wünsche äussern, ohne dass sie sie aussprechen müsste.

Zudem ist dieses Möbelstück etwas, das es heute nicht mehr als Möbelform gibt: Es ist diskret. Diskret, indiskret, das scheint uns heute eine erstaunliche Qualität eines Gebrauchsgegenstandes zu sein, aber tatsächlich spielten Möbel früher mit Gegensätzen wie vertraulich und distanziert, offen und verschlossen, gur befreundet und nur bekannt. Es war früher ein Unterschied, ob man Stühle und Konsolen an den Wänden entlang aufstellte und den Gast dort platzierte, oder ob man in der Mitte des Raumes ein “Indiscret” aufstellte, ein Conversationsmöbel, in dem drei oder vier Sessel, Seite an Rückenlehne zusammengefügt, zu einem verschmolzonen und man stets mit der Drehung des Kopfes dem nächstsitzenden ins Ohr flüstern konnte. Empfing die Dame des Hauses auf der Chaiselounge im Bodoir, durfte man sich als guter Freund fühlen. Sass sie dageben bei Näharbeiten auf dem Stuhl, musste man überlegen, den Besuch kurz zu halten. Aus dieser Tradition nun stammt auch die Büchervitrine, denn sie ist nicht einfach nur ein Platz für Teekanne, Tasse, Kerzenhalter und Buch oben und ein paar weitere Bücher oben. Sie ist auch die Möglichkeit, schnell Literatur vor den Augen der anderen zu verbergen.

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Schnell das gerade gelesene Buch in das Fach gestellt, ein Zug am kleinen, goldenen Knopf, und schon ist die Jalousie unten, und niemand, Vater, Mutter, Gast oder Ehemann weiss, was die Dame gerade gelesen hat. Wir befinden uns im 19. Jahrhundert, in einer Zeit der Zensur und der Unterdrückung bürgerlicher Freiheiten, da man Dichter noch einsperrt, Autoren verjagt und selbst harmlose Episteln verbietet. Es ist eine Zeit, in der es nicht klug ist, alles und jeden wissen zu lassen, denn mögen die Gedanken auch frei sein: Die Gesellschaft ist es nicht. Es muss gar kein früher Sozialist sein, in manchen Kreisen ist Heine schon verhasst und Börne verboten, so manches Gedicht gilt als Ausweis niederer Gesinnung und schlechten Lebenswandels. Da muss man vorsichtig um den eigenen Ruf sein, also, ratsch, ein Handgriff, und kein Besucher kann ohne gröbste Unhöflichkeit erfahren, was das Herz der Dame erfreute. Aber auch indiskrete Briefe, Liebesschwüre und Naschereien können hier schnell und rückstandsfrei verschwinden:

Ist was, mein Herz?
Nein, was soll sein?
Du blickest so… Dein Teint ist so anders heute…
Ach? Schönes Wetter, findest du nicht?
Ich hörte übrigens, dieser elende Heine in Paris hat wieder gegen uns Deutsche…
Ach je, ja, übrigens schrieb Tante Sophie-Clementine gestern…
So in der Art mus man sich die Conversation vor der geschlossenen Jalousie vorstellen.

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Natürlich liesse sich dergleichen auch mit einer schnöden Klappe bewerkstelligen, was nicht nur sehr viel weniger komplex in der Herstellung wäre, sondern auch noch nach Jahrhunderten funktionieren würde. Die Holzjalousie dagegen ist ein kleines Wunderwerk der Technik und entsprechend anfällig, weshalb nur sehr wenige intakte Besipiele auf uns gekommen sind – ich etwa suchte jahrelang, bis ich diesen kleinen, gut erhaltenen Giftschrank entdeckte. Normalerweise hakt es nach 200 Jahren, die Holzplatten laufen nicht mehr, oder sind gar ausgefallen, der dicke Stoff, auf dem sie befestigt sind, ist gerissen, die Schienen im Inneren sind verzogen, und so kann man auch nicht verstehen, wie sie wirklich funktionieren: Denn nur im Notfall, wenn man partout nicht auf die Bücher angesprochen werden wollte, schloss man sie wirklich. 

Aber welche Gebildete will schon verhuscht und ängstlich erscheinen? Welche Dame mit Anspruch will den Eindruck erwecken, sie fürchte sich vor der Unterdrückung durch Metternich, dem Urvater aller von der Leyenschen Internetzensoren? Eine ganz geschlossene Klappe könnte auch eine Flasche Likör verbergen, schlechte Literatur von Klopstock bis Hegemann, derer man sich schämen muss, und so konnte man auch ein klein wenig offen lassen – gerade so, dass ein Besuch erkennt, dass hier gelesen wird. Aber nicht unbedingt, was es ist. So entstehen Ahnungen, Vermutungen, die Dame sagt dem Besuch nur, dass sie nicht böse reagieren würde, wenn er nun von dieser dämlichen Strickarbeit auf ein geistig anregendes Thema käme; so kann der Herr darüber parlieren, was er gerne liest, sich fdamit als geistreich und belesen beweisen, und die Dame kann abschätzen, ob er ihrer würdig ist.

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Hat der Herr dann bei diesem Treffen jene Antworten gegeben, die sie gerne hört – er hat es keck und bübisch mit Balzac probiert, und, vom Lächeln ermutigt, auch den Stendhal erwähnt, den er jüngst erhalten hat, beim Buchhändler, der ganz neue Dinge aus Frankreich hat, auch solche, die ebenso geistreich wie eigentlich verboten sind – findet er beim nächsten Besuch die Lade vielleicht schon etwas mehr geöffnet vor. Nicht ganz offen, als ginge es darum, sich dem Besuch geistig an den Hals zu werfen, aber etwas mehr ist schon zu sehen. Die Titel, beispielsweise, wenn man genau hinschaut. Und der etwas überzählige Schmuck, den sie abgelegt hat, und nun gar nicht mehr so arg steif und vornehm wirkt. Es ist eine gute Gelegenheit, den Stuhl etwas näher zu rücken, um zu sehen, was sie da liest, wenn sie es schon so offenherzig darbietet. Sieh an, sie liest den Sommernachtstraum – das ist sehr fein. Oh, und auch noch die Liebeslieder von Heine. Und keine Bibel. Und auch kein bürgerliches Trauerspiel. Da könnte man vielleicht, also eventuell, moment, daneben, das ist schwer zu entziffern, etwas heranrücken und

So wird dann aus dem Giftschrank eine Möglichkeit, Stimmungen und Wünsche zu formulieren, ohne dass die Dame sie explizit ansprechen müsste. Sie ist immer die Herrin der Konversation, denn die eigentliche Aussage trifft die Büchervitrine, die, je nach Laune und Neckischkeit, als Einladung gesehen werden darf, oder eben nur als herumstehendes Möbelstück, das eigentlich nichts zu sagen hat, und das man nicht überschätzen sollte. Niemand ist gezwungen, bis zum letzten Moment seine Absichten so zu formulieren, dass es den anderen indignieren könnte; vor der ersten Berührung können die Belesenen alles über die Literatur ausdrücken, und wenn der Herr nur genügend Gedichte auswendig beherrscht, kann er sie alles wissen lassen, ohne es zu sagen. Niemand begibt sich in eine Lage ohne Ausweg, alles ist nur Literatur. Und so wacht der kleine Giftschrank auch darüber, dass die Dame ihr Herz nicht an einen ungebildeten, trampeligen Idioten verliert.

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Aber heute braucht man das ja nicht mehr, da holt sich der runtergeschlunzte Hipster am Rechner das Unterleibige über passende Gruppenzugehörigkeiten a la “Beine breit schon in der ersten Nacht” und “Ich glühe härter vor, als du Party machst” bei asozialen Netzwerken, und sagt dann, dass dieses Web2.0 eine wunderbare Sache ist, weil jeder mit jedem, und so. Und Gedichte muss man auch nicht mehr auswendig lernen, weil, die Bürgerlichkeit, ey voll daneben, die stirbt sowieso aus. Sagt auch Luhmann, dessen Zusammenfassung man irgendwo im Netz kopiert hat, auf seinem schicken Notebook aus chinesischer Massenproduktion, dessen Klappe immer offen ist.