Reif ist, wer auf sich selbst nicht mehr hereinfällt.
Heimito von Doderer, Repertorium
Es ist mit die ungemütlichste Ecke einer Stadt, die nicht arm an abweisenden Orten ist. Es ist die Gegend, die das Aussenbild des Ortes prägt, und es ist zugleich ein Nichtort, denn niemand wohnt hier. Nur tagsüber sitzen Menschen in Büros. Die Restaurants sind schon lange geschlossen, ein paar Lampen brennen noch in einigen Arbeitszellen, der Rest ist dunkel wie die Strasse. Jede Ecke wird von Videokameras ausgeleuchtet, die Architektur ist so angelegt, dass Obdachlose keine wettergeschützten Ecken finden, und hinter den Vordächern sitzen Empfangsmenschen, die jeden Eindringling vertreiben, der ohne Berechtigung auf den Monitoren erscheint. Und trotzdem hat all die Überwachung nicht ausgereicht, jemanden mit ausgesprochen schlechten Manieren davon abzuhalten, ein paar Räder der Deutschen Bahn umzuwerfen, die nun als metallische Gerippe gar nicht mehr so schick und dynamisch aussehen.
So schick und dynamisch, wie es eigentlich versprochen war, auf den sattgrünen Almwiesen südlich von Garmisch-Partenkirchen. In einem Seitental unter dem Wettersteingebirge lag ein Schloss, und ein bayerischer Wirtschaftsminister war so freundlich, mich und andere dorthin einzuladen. Das Schreiben teilte mir mit, dass es normalerweise enorm teuer sei, dort zu logieren; der guten Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Journalismus jedoch war es förderlich, auch mich dort zu empfangen, und ohnehin waren es die Jahre um die Jahrtausendwende, als der Unterschied zwischen einer Journalistikstudentin im Nebenfach und der Redaktionsleiterin eines Internetradios und Content Providers in einem Abendessen mit dem Gründer zu suchen war. Experience meets Innovation war der Untertitel der Veranstaltung, und wer dort was mitbrachte, war letztlich egal; jeder konnte dort sein Glück machen, und das Geld, so ein Vortragender einer in Frankfurt residierenden deutschen Bank, liege auf der Strasse, man müsse es nur nehmen. Davor gab es Alkohol, danach ein Festessen, und über all dem ausgebreitet die blendend gute Stimmung, wenn sich alle Beteiligten jung, umworben, selbstsicher und demnächst in sehr angenehmen Lebensumständen wähnen.
Je erfreulicher das Umfeld, desto schneller setzt auch die Betriebsblindheit ein. Und wenn sich alle sicher sind, dass sie die Besten, die Wichtigsten und die Unverzichtbarsten eines Systems sind; wenn sie einem dabei anbieten, eine Weile mitzukommen und dabei mit vielen eindrucksvollen und Wissen vortäuschenden Worten um sich werfen; wenn sie immer jemanden kennen, der auch bei hoher Burn Rate und vielen verlorenen Millionen, 10, 20, vollkommen egal, man hat es ja, immer noch mal neu einzahlt; wenn das System der Selbstbestätigung in sich logisch ist und Fehler einfach nicht existieren, weil sie im Widerspruch zum Selbstbild der Besten sind, die die Besten sind und keine Fehler machen; wenn jede Lüge nur eine Vision ist, jede Dummheit ein Stilmerkmal und jede Ignoranz eine kluge Ironie, die zu verstehen andere einfach zu beschränkt sind – wenn das alles so ist, tut man eigentlich gut daran, sich zu solchen Gelegenheiten in das Schwimmbad zu legen, die Massagedüsen schäumen zu lassen, und auf Rechnung des Ministers noch ein Mischgetränk bringen zu lassen, wenn man schon nicht an den einzig richtigen Weg der Neuen Ökonomie zu glauben bereit ist.
Das System der Leihräder, die heute der Bahn gehören, wurde in München entwickelt, und bei eben jener Veranstaltung in den Vorjahren sehr gelobt. Hatten die Gründer doch die Technik selbst entwickelt, eine Marktforschung mit blendenden Zahlen anfertigen lassen, nach denen sehr viele Münchner nur auf diese allerorten verfügbaren Leihräder warteten und begierig wären, sie zu benutzen, und zudem einen wirklich glaubhaft aussehenden Geschäftsplan entwickelt, mit dem sie bald auch Investoren fanden, die ihnen einen einstelligen Millionenbetrag für die Aktien ihrer Firma gaben. Es ist bei solchen Treffen immer nett, wenn nicht nur Programmierer und andere Schamanen des Digitalen Beschwörungen verkünden, sondern auch etwas Handfestes vorgezeigt wird: Siliziumschneider, Aufbereitung medizinischer Geräte, oder eben Leihräder, die man telefonisch buchen kann. Das gibt dem Ganzen so etwas hübsch Reales, greifbar und wirklich vorhanden, mindestens so wirklichkeitsversprechend wie eine weggeworfene Zeitung in der U-Bahn oder ein Brennelementecontainer.
Erstaunliches war zu jener Zeit noch über die modernen Räder zu lesen, ein neues Mobilitätskonzept sollten sie sein, heute noch München und nächstes Jahr schon Deutschland. Die Anmeldungen lagen im Plan, und die Medien eilten herbei, um das Sommermärchen mit eigenen Augen zu schauen: In München ankommen und radeln, unter dem blauen Himmel, zu einem Biergarten, in den englischen Garten, und das Rad einfach stehen lassen, wenn man es nicht mehr braucht. In zehn Jahren, so die Behauptung dieses Sommers, würde man mit 100 bis 150 Millionen Euro Umsatz rechnen. Auf den Almen rund um das Schloss machte dagegen eine andere Geschichte die Runde; die Gründer der Firma hätten sich bei anwesenden Investoren intensiv um Finanzierung bemüht, was trotz all der freundlichen Worte der Medien nie ein wirklich gutes Zeichen ist. Trotzdem galten sie hier oben auf dem satten Grün und in den Vortragsräumen immer noch als Erfolgsgeschichte. Das war am 20. Oktober des Jahres.
Am 20. November sah sich die Firma mit den 100 Mitarbeitern, den zukünftigen Millionenumsätzen und ehemals glücklichen Aktionären gezwungen, mit unschönen Informationen an die Öffentlichkeit zu treten: Die Hausbank hatte einen Überbrückungskredit nicht bewilligt, die Umsätze waren ebenso hinter den Erwartungen geblieben, wie sich die Kosten über die Planungen erhoben. Die Firma brauchte sehr schnell sehr viel Geld, und bot allen Münchnern an, ab 95 Mark Anteilseigner an der Firma zu werden. Schon bald werde man in andere Städte expandieren und damit die Umsätze erheblich steigern. Statt dessen meldete man bald Insolvenz an, und ein halbes Jahr später übernahm die Bahn die Reste. Die Investoren gingen leer aus, wie es nun mal so in der Neuen Ökonomie nach dem Ende der Illusionen war, und auch heute bei den taumelnden Banken noch so sein wird.
Ein Jahr später wurde ich erneut eingeladen, aber damals ging es schon nicht mehr so gut, und einen Teil der Kosten übernahm ich selbst. Es waren nur noch wenige Journalisten da, die Welt hatte nach dem Einschlag der Flugzeuge in das World Trade Center auch andere Probleme, und man sprach über all das, was nach dem Internet noch kommen sollte: Mobile Commerce, UMTS, Biotech, neue Schlagworte für alte, unerfüllte Hoffnungen einer Elite, die noch nicht verstanden hatte, dass es vorbei war mit den selbstsicheren Träumen und den neuen Realitäten, den kostenlosen Fleischtöpfen und den Strömen von Lob, Begünstigung und freien Getränken. Man traf sich nicht mehr in Bergschlössern auf grünen Wiesen, um über das Netz zu reden; man war wieder in Frankfurt und wettete auf Derivate des amerikanischen Häusermarktes.
Schräg gegenüber ist eine Bank, die eine andere Bank kaufen musste, damit die nicht zusammenbricht, und dann selbst Hilfe brauchte, um durch die Krise zu kommen. Auch ist es eher unwahrscheinlich, dass man dereinst diese Türme so achtlos umwerfen wird, wie die Relikte der grossen Pleitewelle des Jahres 2000, denn es findet sich doch immer einer, der zahlt, bevor alles andere zusammenbricht. Was dem einen sein Rad, das er mit einem Anruf mietet, ist dem anderen sein Politiker, und in zehn Jahren Abstand ist es immer leicht, eine schöne Zukunft mit exzellenten Ergebnissen zu versprechen. Die Münchner haben die Radlfirma nicht gerettet, aber beim grossen Spiel der wankenden Währungen werden sie nicht mehr gefragt, oder gebeten. Niemand richtet dramatische Aufrufe an die Bevölkerung, das geht schon irgendwie per Absprache unter Entscheidern, und ich muss meine Tage auf den Almwiesen selbst bezahlen.
Aber dafür ist dann auch die Gesellschaft erheblich besser.