Mit welchem Recht hat Cäsar geherrscht?
Machevill in Marlowes “Jude von Malta”
Es ist schön hier. So schön, dass man unwillkürlich nach Schildern mit der Aufschrift “Vendesi”, zu verkaufen, schaut.
Nach dem Meisterwerk dieser Landschaft brauchte die Schöpfung erst mal eine Kreativpause, und dabei kam Norddeutschland heraus. Es wird gern gegiftet über Alt68er, die eigentlich längst gut versorgte Rentner sind, und sich hier niederlassen – aber wer möchte ihnen das verdenken. Es duftet in diesen Herbsttagen nach Wein, die Steinpilze kosten lächerliche 14 Euro das Kilo, wenn man zu faul oder zu kaputt von den Strassenkämpfen der Jugend ist, um sich im Wald danach zu bücken, der Chianti ist hier der Hauswein, und allenthalben weitet sich der Blick über eine Landschaft, wie von den Brüdern Lorenzetti gemalt.
Wir befinden uns kurz hinter Florenz auf den ansteigenden Hügeln der Region Chianti, auf dem Weg nach Siena. Wer literarisch gebildet ist, wird im ersten Moment vielleicht an Boccaccios Decamerone denken, an die zehn jungen, schönen Menschen, die aus der pestverseuchten Stadt Florenz im Sommer des Jahres 1348 ausziehen, ein Landgut besuchen und sich zehn Tage dem Gesang, den Spielen, der nur angedeuteten Liebelei und den Geschichten hingeben, in denen die europäische Literaturgeschichte für die nächsten Jahrhunderte alle Themen findet, die sie braucht, und dabei noch nicht mal so dreist klaut wie all die Hegemänner und was sonst noch demnächst auf der Frankfurter Buchmesse bejubelt wird. Es ist Literatur so üppig und grosszügig wie dieses gesegnete, fruchtbare Land, und hier, in den Olivenhainen und Gärten, zwischen den Bruchsteinmauern und sanft geschwungenen Hügeln, vermeint der Gebildete fast den Lautenklang zu hören, und Dioneo singt von der Hingabe, die sich nicht erfüllen darf. Unten im Tal des Arno sieht man, wenn man genau hinschaut, die Kuppel und den Campanile des Doms, aber dorthin, in die stinkende und laute Stadt, würde hier oben keiner wollen, im Gegenteil: Hier oben will man leben und seine Tage beschliessen.
Und tatsächlich sind wir an einem Schauplatz der Literaturgeschichte. Eines der bekanntesten und meistgelesenen Bücher der Nachantike wurde hier geschrieben, in diesem kleinen Dorf mit dem Namen Sant’Andrea in Percussina im Jahre 1513. Der Mann, der es schreibt, hat gerade nichts anderes zu tun, denn nach einem Machtwechsel in Florenz hat er seinen leitenden Posten als Verteidigungs- und Aussenminister der Republik verloren. In Florenz sind die Medici gerade nach 18 Jahren der Vertreibung wieder an die Macht zurückgekehrt: Die Republik wurde beendet, ihre Institutionen aufgelöst, ihre leitenden Mitarbeiter gefeuert und auf Verdacht, sie könnten eine Verschwörung anzetteln, auch gefoltert und verbannt. Der Autor hat so einer Folter mit Seilen stand gehalten und nichts zugegeben, und muss Florenz dennoch verlassen, was angesichts der gern Dolche bemühenden Zeitumstände noch eine eher milde Behandlung war. Reichlich frustriert zieht er sich auf das Landgut seiner Familie zurück und schreibt hier oben in Sichtweite der Stadt in sechs Monaten ein kleines, sarkastisches und abgeklärten Buch über die Macht mit dem Titel “Il Principe”, der Fürst.
Der krasse Gegensatz zwischen der lieblichen Landschaft und der sinistren Thematik des Buches ist nur der kleinste Treppenwitz, den zu erzählen, den Niccolo Machiavelli der Geschichte damit Anlass gibt. Es braucht vermutlich genau dieses Sant’Andrea in Percussina mit seinem Blick nach Florenz, um dieses Werk entstehen zu lassen: Hätte sich unten jemand bereit gefunden, mal wieder einen Medici in einer Kirche niederzustechen oder die Köpfe der Sippe zu vergiften – was kurz nach der Machtergreifung von 1512 und der Unterdrückung der Republikaner nicht wirklich überraschend gekommen wäre – hätte man dabei vielleicht den ein oder anderen Palast der Medici geplündert und in Brand gesteckt, wie das damals so üblich war, hätte Machiavelli nur aus dem Fenster im ersten Stock schauen und die Rauchfahne erkennen müssen, und in ein paar Stunden wäre er wieder in der Stadt gewesen, um bei einer neuen Republik wieder führende Ämter einzunehmen. Aber die Medici sitzen fest im Sattel und Machiavelli in Sant’Andrea in Percussina, die Medici regieren durch und Machiavelli schreibt über Macht und die Arroganz der Macht. Unten im Tal wird den Bürgern der Stadt eingebläut, dass das Recht, die militärischen Mittel, der Papst und bald auch Gottes Wille hinter den Medici steht, oben in Sant’Andrea in Percussina schreibt Machiavelli auf und belegt mit Beispielen, dass es letztlich nur die “virtu”, das schicksalhafte Geschick des Einzelnen, eine gewisse Grandezza der Vorbestimmtheit ist, das einen Herrscher ausmacht – man muss ihm bei dieser doch etwas gewagten Analyse zugute halten, dass es damals noch keine evangelischen Pfarrerstöchter aus der Uckermark, kleinwüchsige Medienunternehmer mit einem Hang zu jungen Mädchen und alten Sizilianern oder Popbeauftragte der SPD gab, mit denen man leicht den Gegenbeweis hätte antreten können.
Zu Lebzeiten Machiavellis kursierte das Buch vor allem in politisch interessierten, republikanischen Kreisen in Abschriften. Es war seinen Zeitgenossen vermutlich sehr wohl bewusst, dass der Inhalt bei den Mächtigen nicht gut ankommen würde. Jeder hatte damals wie heute ein gut begründetes Interesse, seine Gewaltherrschaft mit höheren Zielen und Willen zu begründen: Als da wären Gott, Gesetze, altes Herkommen, ein Kaiser, ein Papst, ein Wählerwille, oder wenigstens eine 5 Minuten schnellere Zugverbindung von Paris nach Bratislava über den Zwischenstopp des Schlachtfeldes in Stuttgart21. Maciavelli, den damals noch die Gelenke von der Folter geschmerzt haben dürften, schob das alles beiseite und beschrieb Macht und Herrschaft als Ergebnis von gesellschaftlichen Prozessen, die man entweder beherrscht und überlebt, oder die – wie den Langobarden – einem Herrscher entgleiten und Amt, mitunter auch das Leben kosten. Rückblickend hat Macchiavelli mit dieser Beschreibung gerade in seiner von Kriegen und Revolten geprägten Zeit absolut Recht – aber es war genau die Sorte des Rechthabens, die ein Fürst zu jener Zeit nicht gerne hören wollte. In Verkennung dieser realpolitischen Tatsachen versuchte Machiavelli, sich mit diesem Buch bei den Medici als – heute würde man sagen – Politikberater zu empfehlen, und durfte dafür acht weitere Jahre als Verbannter die landschaftliche Schönheit von Sant’Andrea in Percussina geniessen, ab und an besucht von Freunden, die sich überlegten, wie man die Medicis vielleicht doch beseitigen könnte.
Machiavellis weiterer Weg als nur mässig begabter Machiavellist – er qualifizierte das Buch als “Spinnerei” ab, schaffte es doch noch, von den Medicis ein paar Posten zu ergattern und wurde, nach der Medici Nichtbeachtung der Lehren des Buches und erneuten Sturzes 1527, von den Republikanern als Wendehals geschnitten – ändert nichts am durchschlagenden Erfolg seiner Thesen. Gerade durch die abgeklärte Haltung zur Macht und ihrer Ergreifung fand das Buch eine Vielzahl von Freunden unter jenen, die Macht wollten, und weniger unter anderen, die sich als Ziel solcher Bestrebungen auf unsicheren Posten wähnen mussten. Dem Bürgertum – oder besser, der bürgerlichen Elite, die herrschen möchte – sagt das Buch, dass es dazu das gleiche Recht wie jeder andere hat. Man muss nur wollen und bereit sein, etwas dafür zu tun, und wenn man dann die Macht hat – nicht mehr grausam sein, sondern allseits geachtet werden. Obwohl das Buch oft genug die miestesten Charaktere seiner Zeit lobt, sind die Lehren bestens auf bürgerliche Gesellschaften und Demokratien übertragbar, bei denen der Machtwechsel jenseits von Bayern nicht mehr ein zu allen Mitteln legitimierender Affront gegen Gottes Wille, sondern gewollte Entscheidung des Systems ist. Machiavelli schliesst mit dem Aufruf, die Barbaren aus dem Norden aus Italien rauszuwerfen und in ihre dunklen Länder zu schicken.
Wie gesagt: Das war vor fast 500 Jahren. Mappus ist tatsächlich kein Chef einer brutalen Söldnertruppe in Italien geworden, aber dafür haben sie hier den Berlusconi, die Postimmernochfaschisten und die Lega Nord.Da werden die Vendesi-Schilder doch etwas unattraktiv.