Oho! Wir Doktoren wissen überhaupt alles!
Arthur Schnitzler, Das Vermächtnis
Als das Schicksal die M. plante, hatte es ein tolles Wochenende hinter sich. Vergnügt gab es der M. eine Schönheit zum Niederknien mit, einen mehr als nur interessant wirkenden Kontrast zwischen den dunklen Haaren des Südens und den stechend blaugrauen Augen der nordischen Meere, die elegante Figur einer spätarchaischen Kore und das einnehmende Betragen einer wirklich guten Tochter. Dann war Mittag. In der Schicksalskantine nahm das Schicksal 250 Gramm Trüffel mit sparsam darüber geriebenen Nudeln, und suchte danach in seiner Kartei der passenden Eltern der kommenden Nacht die besten Apotheker im besten Westviertel einer der besten Städte des Landes heraus. Dann tat es das, was alle Bekannten der M. später gern tun würden: Es kniete sich hin und himmelte die M. verzückt an. Selten war ein Wesen dem Schicksal so gut gelungen.
Dann spielte es eine Runde Minesweeper, lud sich ein paar Pr0n0s für den Abend natürlich nur als Inspiration für Gestaltung herunter, und als der Sonderauftrag für eine grosse, aber billige Serie neuer, höchst belast- und biegbarer Pressesprecher vom Schicksalschef eintraf, fehlte ihm dummerweise noch die Zeit für einen kleinen Test. Sonst wäre dem Schicksal vielleicht aufgefallen, dass die zentrale Steuereinheit der M. allenfalls durchschnittlich war. Schon in der Schule brandeten deshalb Männer- und Bildungsfluten vergeblich an die M. heran – sie verstand es einfach nicht. Und als sie zum Studieren nach P. an der W. ging, wurde die Malaise erst richtig offenkundig.
Die M. war einfach nicht dafür geschaffen, die Pharmazeutik wie ihr Vater und Grossvater zu verstehen. Zu hoch waren die Anforderungen, zu ungünstig die Zeiten, da es für einen Abschluss als Giftmischer nicht mehr reichte, aus einer Familie von Giftmischern zu kommen. Und so rasselte die M. ein ums andere Mal durch die Prüfungen, hatte auch lieber Lust, mit mir ab und an essen zu gehen, wo wir stundenlang über nichts plauderten. Dann wechselte sie auf Geheiss ihres Vaters den Studienort, kam auch nicht weiter, wechselte nochmal zu einem anderen Ort, wo ihr Vater wohl jemanden recht gut kannte. Dort bestand sie so lala die Prüfung, die es ihr erlaubte, die elterliche Apotheke zu übernehmen und alles, was über Empfehlungen zur Schönheitspflege hinausgeht, ihren Mitarbeiterinnen zu überlassen. Es läuft, so sagt sie, famos. Das Schicksal, so hört man, ist darüber sehr erleichtert und entwickelt heute Girlies und Bubis für die Berliner Kreativwirtschaft, wo man nicht viel falsch machen kann.
Vor 25 Jahren wäre jeder andere Verlauf auch eine Tragödie gewesen. Firmen, Geschäfte und Arztpraxen lebten davon, dass die Kinder die Stellen der Eltern übernahmen. Und die Kinder wurden auch frühzeitig so erzogen, dass sie nach dem Abitur kaum einen anderen Wunsch kannten, als ihren Eltern nachzufolgen. Wer da eine abweichende Meinung hatte, dem wurde sie natürlich gelassen: “Du bist 18, volljährig, tu was Du willst und viel Glück bei der Suche einer selbstfinanzierten Wohnung”, lautete nicht selten die elterliche Hilfe bei der Entscheidungsfindung, zumindest in den konservativeren Ecken des besseren Viertels. Gerne wurde dabei auch auf Trottel aus der Nachbarschaft verwiesen, denen keine Steine in den Weg gelegt wurden, und die dann zu ihrer Überraschung entdeckten, dass die gewählte “Klassische Archäologie” eigentlich die eher ungeliebte Kunstgeschichte der griechischen Antike ist, während das Ausgraben, mit dem Jeep durch die Wüste rasen und Zeit zum feiern im Parkcafe haben bei einem Fach names “Vor- und Frühgeschichte” zu finden ist. Studienwechsel! Was für ein Skandal! Was für eine schöne Gelegenheit für Häme!
25 Jahre später, die geknechteten Kinder von damals haben ihre eigenen Kinder durch ebenjene Schulen geschleust, die sie selbst früher hassten, ist so ein Studienwechsel vollkommen normal. Kinder probieren eben rum, bis sie das richtige haben, einmal hat jeder frei, und die Sache mit dem lupenreinen Lebenslauf voller 1A-Praktika ist auch nicht so wichtig, wenn der Vater beruflich die richtigen Leute kennt. Letzthin hörte ich, dass die Kinder Besserverdienender an einer Eliteuni sogar in überfüllten Vorlesungen anderen, weniger Glücklichen Geld geben, damit sie ihnen Plätze freihalten. Wer mit dieser Haltung aufwächst, macht sich vermutlich keine besonderen Sorgen, irgendwann unten, allein und mittellos zu enden. Wenn es am ersten Ort nicht geht, geht man eben zu einem anderen Ort, und man kann es sich leisten, weil die Eltern für diese Zwecke auch stets genug zurückgelegt haben. Und von da aus ist es eigentlich nur noch ein kleiner Schritt zu einem Gedanken, der früher undenkbar gewesen wäre: Warum überhaupt dieses Studium?
Warum die Plackerei in einem elenden Massenbetrieb, wo man nur noch eine Nummer unter vielen anderen ist? Warum etwas lernen, das man im Beruf nie braucht, warum eine Abschlussarbeit über, sagen wir mal “Kommerzielle Verwertung von social Networks in Zeiten der Wirtschaftskrise” schreiben und auf Englisch übersetzen lassen, wenn allen klar ist, dass diese Arbeit nie gelesen werden wird? Oder, anders gefragt: Wozu überhaupt diese knallenge, auf Streber ausgerichtete Halbwissensmaschine absolvieren, wenn es gar nicht sein muss? Und so kommt es zum neuen Skandal, zur Nachfolge der Studienwechsler: Zu Studienabbrechern im Westviertel. Und nicht alle kann man einfach so in die Berliner Kolonien abschieben und erzählen, der Sohn mache etwas mit Medien: Auch älteren Nachbarn verfügen heute über Internet und Google, ja gar über Facebook-Konten.
Nicht gerade hilfreich ist bei der Vermeidung solcher Skandale die weit verbreitete und gelebte Tendenz der Rebellion gegen das eigene Establishment, sich auf den Abbruch noch etwas einzubilden. So, wie manche Kinder von bildungsfernen Schichten stolz sind, sich auf dem zweiten Bildungsweg nach oben gekämpft zu haben, gibt es inzwischen auch die gegenteilige Haltung: Nämlich die, sich nicht auf die Privilegien der Eltern verlassen zu haben, auf ein schriftgenaues Befolgen aller Forschriften und präzises Sammeln aller Scheine in Rekordzeit zu verzichten und die Meinung vertreten, dass Bewerbungen ohnehin nichts bringen – irgendwann trifft man auf den richtigen Chef, macht es mit einem Handschlag aus und ignoriert seitdem auch das monatliche Gewinsel der Sachbearbeiter der Personalabteilung, doch bitte endlich das NDA unterschrieben zurück zu schicken. Mindestens genauso impertinent sind übrigens die Leute, die nach 10 Jahren einen mittelmässigen Magister zwangsgebaut haben und dann dreist vor Studenten der BWL erzählen, sie hätten als Kunstgeschichtler natürlich keine Ahnung von Wirtschaft, aber trotzdem sässen sie auf jenen Posten, unter denen sich der Nachwuchs eventuell, aber nur bei Wohlverhalten, sammeln dürfte – aber statt Musterschülern hätte man doch lieber Querdenker: Eine direkte Aufforderung an alle verwöhnten Kinder, das lahme Studium bleiben zu lassen und nach Karrieren ohne Abschluss zu schielen. Und bei “was mit Medien”-Jobs ist es ohnehin vollkommen egal, ob man als fertiger Sinologe oder Snowboardhalbprofi einsteigt.
Und so wird man Zeuge ganz erstaunlicher Entwicklungen: Da sind tatsächlich welche, die ihren Weg jenseits der Universität selbst gehen. Vermutlich aber sind da mehr, die auf diesem Weg nicht zwingend voran kommen und dann nach einigen Pleiten doch wieder bei den Eltern nachfragen, ob sie mal beim Nachbarn nachfragen können, der ja Personalchef ist – auch das scheint möglich zu sein. Manche wie mein in solchen Dingen schon immer fortschrittlicher Bekannter H. werden nicht Zahnarzt, sonder Berufspartymacher, später Eventorganisator und am Ende Wahlkampfstratege für die Partei. Sie landen in irgendwelchen Vertriebsstrukturen recht weit oben, wo man es mit reichen Leuten zu tun hat, die man über das Ohr haut, wie man die eigenen Eltern beim Studium beschummelt hat. Sie sind auf all den merkwürdigen Posten mit englischen Namen, die so gar nichts mehr mit Berufen wie Arzt, Notar oder Mittelständler zu tun haben. Vielleicht, mag mir scheinen, ist der Massenbetrieb der Universitäten nicht wirklich geeignet, den Menschen jene Mengen an überzogenem Selbstwertgefühl, dreister Ignoranz der Risiken und Resten eines nur bei Bedarf zugeschalteten guten Benehmens mitzugeben, die man in der heutigen Berufswelt mindestens ebenso wie einen grandiosen Abschluss braucht.
Wieso jedoch das Schicksal die Produktionslinien so umgestellt hat – das weiss ich auch nicht. Vermutlich, wie überall, wegen Kosteneinsparungen und Synergieeffekten.