Ich habe diesen Krieg in mir längst gehabt.
Paul Klee in seinem Tagebuch, 1915
Manche verstehen sicher nicht, warum man als junger Mensch bewusst wieder in genau das Haus einzieht, in dem der eigene Clan schon die letzten 150 Jahre durchgehend hauste, zumal, wenn es genug Alternativen gibt. Irgendwann, mag man sich denken, muss es doch reichen, jede Generation die immer gleichen Mauern von der Geburt bis zum Tod, die gleichen Stuckdecken und Türen, durch die alle gegangen sind, bis sie nie wieder kamen, ein Haus, wenn man so will, voller Sterbezimmer, denn früher kam der Tod noch persönlich ins Haus und lungerte nicht in der Geriatrie herum, wo man die Sterbenden abzuliefern hat. Da drin, denke ich mir, wenn ich hinunter gehe, starb d’Tant’Theres im ruhigen Schlaf, und im Hof, wo mein Auto steht, fand man die eingeschneite Leich’ von der oid’Bichlerin, die in der Nacht traumwandelnd aus dem Fenster ganz oben gefallen war, aber keine Sorge, meine Damen, die war nur angeheiratet, bei uns ist genetisch alles in bester Ordnung, keine Sorge, das hat ein anderer Clan abbekommen – und überhaupt, es geht mir ja um das alte Haus und seine Geschichten, nicht um die Partnersuche durch diese exzellente Zeitung.
Die Geschichten hinter den Türen sind natürlich oft genug böse, so eine Familie hat in diesem Zeitraum mit all den Brüchen und Wandlungen einiges durchzustehen, aber, wie meine Grossmutter, stets recht habend, so treffend bemerkte: “Selten ein Schaden, wo nicht ein Nutzen dabei ist.” Und natürlich entging man auch nicht denm grossen Schaden der Inflation. Mein Urgrossvater jedenfalls hatte irgendwann genug vom Glauben an die Wertbeständigkeit von Papier, holte alles Geld von der Bank, drückte allen Familienmitgliedern ein paar Bündel davon in die Hand und sagte, sie sollten so schnell wie möglich alles kaufen, was sie finden könnten, und einen Wert behalten würde.
Bei diesen Noteinkäufen müssen auch all die Messingschrauben gewesen sein, die man nach der Krise nutzte, um die damals 320 Jahre alten Holzbalken der Küche mit Linoleum zu versehen: Dadurch wurde der Küchenboden zwar schön warm, aber ich hatte vor 4 Jahren das Vergnügen, all die Schrauben wieder herausdrehen zu müssen, denn unsere neue Zeit mag alte Hölzer: Es waren gute Balken und gute Schrauben, es war fest zusammen, und tagelang hatte ich Schwielen an den Händen. Die Küche war gross, aber der Vorrat an Schrauben war grösser, alle 15 Zentimeter eine. Glauben Sie mir, ich weiss, was für ein Irrsinn eine Hyperinflation bedeutet, wenn das Geld kaputt wird und man Schrauben für eine gute Investition hält. Mein Urgrossvater hat rechtzeitig den Bank Run gemacht, aber suboptimal war die Antwort auf die Frage, was man danach tun soll.
Heute nun müssen wir davon lesen, dass der Rettungsschirm aus unserem Euro grösser werden soll, dass eine Massenflucht aus spanischen Anleiehen in unserem Euro stattfindet, dass die Staatspleiten als realistische Szenarien gelten und Bankster in London erpressen fordern, dass sie beim Retten der Staaten keinesfalls beteiligt sein möchten. Solidarität und Gemeinsinn ist etwas anderes, und natürlich darf man fragen, warum man denn den Banken trauen sollte, wenn die schon den Staaten – also uns – nicht mehr trauen. Spätestens, wenn eine Regierung sagt, dass sie keine Hilfe braucht, und andere Regierungen betonen, dass es keine Alternative zu ihren Plänen gäbe, darf man mit Fug und Recht vermuten-
dass man sich an das schöne, englische Weltkriegsmotto keep calm und carry on halten sollte. Oncarryen: Zum Beispiel das Geld. Keep calm, ruhig bleiben, nachdenken, Schrauben sind nicht alles, ein schöner Perserteppich macht auch warm. Aber generell ist so ein Blick zurück gar nicht so dumm, denn im Gegensatz zu den mehr oder weniger hilflosen Panikkäufen war die grundlegende Idee “was mit Häusern” auch nicht so schlecht: Immobilienbesitzer nämlich waren in den zwei grossen Geldentwertungen der 20er und 40er Jahre jeweils auf der Gewinnerseite, oder wenigstens “Nicht-Verlierer-Seite”, was angesichts eines umfassenden Niedergangs auch eine Art Sieg ist. Ich will hier natürlich keinesfalls aufrufen, die Banken zu stürmen und sich nach Betongold umzusehen: Der Umstand, dass ich mich ab Januar intensiv um die Restaurierung unseres Hinterhauses kümmern werde, ist auch nur Zufall, mindestens so sehr wie die 6000 zusätzlichen Page Impressions, die in den letzten Tagen bei meinem letzten Beitrag zum Thema Bank Run und Staatspleite auf wundersame Weise von Google angespült wurden.
Nun bin ich kein Ökonom und, wenn überhaupt, gerade mal Kulturhistoriker, ich kann schlecht rechnen und strategische Investitionen sind auch nicht meins – was sich aber zumindest für mich aus den Erzählungen ergibt, ist ein gewisses Schema, das sich als sehr hilfreich erwies: Da gab es diesen grossen Klops von einem Haus, der wie ein Schneepflug krachend durch alle Wirrnisse brach. Die Gewinne in diesen Zeiten waren mau, die Möglichkeiten begrenzt – aber es war nachher noch genau so da, und es wurde weiterhin für ein Grundbedürfnis gebraucht. Es gab unter diesem Dach etwas, über das ich mich in dieser kleinen Kolumne oft genug lustig mache – generationenübergreifend einbetonierte Clanstrukturen, auf die man sich verlassen konnte, als auf den Staat und die Banken kein Verlass mehr war. Und darüber hinaus wohl so eine Art Standesbewusstsein, das mit anderen Clans dieser Art ein Netzwerk formte, mit dem man der Entwürdigung durch Schwarzhändler und andere Profiteure der Krise entging. Nicht, dass man deshalb zum Wilddieb oder zum Steuerhinterzieher geworden wäre – aber nachdem der Staat sich nicht mehr kümmerte, gab man das in die Gewehrkugel gelaufene Reh nicht ab, und wenn die eine Tochter etwas Selbstgenähtes verschenkte, verschenkte die andere eben Butter. Neben dem Lob für das Haus, das alles beschützte, erzählte meine Grossmutter nie etwas von den verfluchten Drecksschrauben im Küchenboden, aber sehr viel vom Zusammenhalt dieser schlechten Zeiten.
Vermutlich würde in der dummen, kleinen Stadt im schlimmsten Krisenfall wieder etwas ähnliches passieren, man würde zusammenrücken, von den Reserven überleben, sich gegenseitig stützen und warten, bis bessere Zeiten kommen. Das – und nicht die Antwort auf die Frage, ob statt der Schrauben nicht vielleicht ein Barockgemälde werthaltiger gewesen wäre – hat man durch die Erzählungen aus der Zeit gelernt. Das macht noch keine Krisengewinner, aber sehr wohl Krisenübersteher. Der schnellste Bank Run in Frankfurt und all die Übung beim J.P. Morgan Corporate Challenge Lauf wird auch den Bankmitarbeitern wenig bringen, wenn sie danach nicht Strukturen haben, die auch dann noch helfen, wenn das Geld nicht mehr hilft. Den Berlinern könnte es bei ihrem weitgehenden Nullbesitz vermutlich egal sein, aber ich wage zu bezweifeln, dass ein Macbook Air, ein iPhone oder ein Starrgangrad in dem Unfang aufwerten, wie das Geld abwertet. Häuser und Clans haben keinen Wert, sie sind einfach da.
Nein, wirklich, ich möchte nicht heiraten und mein Clan ist gross genug – und ausserdem ist es jetzt ohnehin zu spät, die Krise wartet beileibe nicht auf das Aufgebot oder Hochzeitsglocken. Feste soziale Bindungen, so spiessig sie auch sein mögen, brauchen ein paar Jahre der Entwicklung und nicht ein Hinzufügen als “Friend”, wenn sie solche Halbjahrhundertverwerfungen überstehen sollen. Nicht immer mag es mir gefallen, wenn andere heute noch genau wissen, welchen Skandal meine Grossmutter 1930 in dieser Stadt verursachte – aber dafür weiss ich auch, warum bei den anderen der Vater seinen Käfer Anno 52 ruinierte. So funktioniert nun mal Gesellschaft selbst in Zeiten, da Geld, Banken und Staaten angeblich nicht in der Krise sind und ansonsten keine Alternativen haben. Ein Dach über dem Kopf und Sozialstrukturen, die nicht auf Basis monetärer Verbindlichkeiten errichtet sind, lassen sich nicht beziffern, und folglich auch nicht entwerten. Vielleicht muss man irgendwann schnell zur Bank laufen, aber am Ende ist es nur entscheidend, dass man danach wieder an einem Ort ankommt, wo es sich aushalten lässt.
Und diesmal bitte: Keine Schrauben kaufen. Ein Barockgemälde und ein Nagel für die Wand, da hat die Nachwelt auch 80 Jahre mehr davon, als Schwielen an den Händen.