Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Fluchtgedanken praktischer Natur (wiederhergestellt)

(Wiederhergestellter Beitrag, Kommentare fehlen noch)

Fluchtgedanken praktischer Natur

Bitte betrachten Sie vordem Lesen dieses Bild. In Japan retten amerikanische Helfer alteFahrräder aus dem Trümmern und lassen Autos liegen. Ich meine das alles wirklich nicht zynisch.

Um die Menschen zu verstehen, sollteman in Bayern auf den Wochenmarkt gehen. Hier, unter mehrheitlich weiblicher Beteiligung, wird das besprochen, was alle, auch die Oberschicht betrifft, und das Thema, das es hierher schafft, ist wirklich ein bedeutendes Thema. Dass bei uns Fukushima wichtig werden würde, stand ausser Frage; viele der hier Verkaufenden waren schon vor Tschernobyl “bio”, weil sie noch nie nicht bio waren,und die damalige Zeit steckt allen noch in den Knochen: Tschernobyl hätte beinahe auch dem Wochenmarkt hier den Garaus gemacht. Mir wurden gestern zwei Fragen gestellt: Erstens, ob ich nicht auch glaube, dass die uns alle anlügen. Und: Was ich denn täte, wenn eshier krachen würde. Weil denen da oben und in den Medien, denen glaubt man nicht, die stecken alle unter einer Decke, und wenn der Befehl zur Evakuierung käme, wäre sowieso alles zu spät. Also, wa stun, fragt der Wochenmarkt, und das ist eine Frage, der man sich hierzulande, wenn man selbst Teil der führenden Klasse ist, besser nicht entziehen sollte.

Zuerst mal: Obschon ich bei diesem Medium – in mühevollster Kleinarbeit bei Bienenwachskerzenschein – schreibe, verstehe ich das Misstrauen, das einem entgegen schlägt.

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Und weil das soist, möchte ich mich auch nicht vor der zweiten Frage drücken: Sollte es krachen, würde ich verschwinden. So schnell wie möglich. Stellt sich nur die Frage: Wie?

In Gundremmingen, 80 Kilometer von hier entfernt, steht ein Atomkraftwerk. Kommt der Wind, wie sehr oft, aus dem Westen, liegt meine kleine, dumme Stadt an der Donau mit dem Wochenmarkt im nördlichen Bereich einer Strahlenwolke, falls das Ding hochgeht. Leichten Wind vorausgesetzt, hätte ich drei bis vier Stunden, um mich auf den Weg zum Tegernsee zu machen, aber der Bayerische Rundfunk braucht sicher eine Stunde, um seine Wahrheitenmit der Staatsregierung abzugleichen, Fenster schliessen, drinnenbleiben, keinerlei Gefahr für die Gesundheit, man kennt das. Im Höchstfall blieben, realistisch gerechnet, höchstens zwei Stunden ,um mich in Sicherheit zu bringen. Am Tegernsee habe ich eine Wohnung mit allem, was man zum Leben braucht, von der Kleidung bis zur Silberkanne; ich reise also mit kleinem Gepäck, aber auch: Mit meinem ganzen Leben. Und als Fluchtmittel nehme ich das hier:

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Ein Fahrrad. Nicht irgendeines, sondern ein sehr hochwertiges, pfeilschnelles Chesini Innovation von 1993. Ganz sicher keinAuto. Denn jeder wird in so einer Lage instinktiv in die Berge flüchten, idealerweise im rechten Winkel weg von der Verbreitungsrichtung der Strahlenwolke. Dorthin führt auch die beste Autobahn Süddeutschlands, die A9 Nürnberg-München. Würde meine Stadt mit läppischen 130.000 Einwohnern nach Gmund auf den Weg machen, und würde man die Autobahn vierspurig befahren und nur mit diesen Leuten befüllen, derer durchschnittlich 3 in jedem Fahrzeug, und hätte jeder Wagen vorne und hinten auch nur 5 Meter Platz – dann stünde der erste in Gmund. Und der letzte immer noch in Ingolstadt .Ohne Neuburger, Donauwörther, Pfaffenhofener, ohne jeden Münchner würde diese Stadt alleine die Hauptfluchtroute in die Berge komplett dicht machen. Man ahnt: Der Gang zu Porsche und S-Klasse ist ein Gan gin ein luxuriöses Verderben, die beste Autobahn ist ein Nadelohr, durch das kaum ein Reicher gehen wird, wenn alle gehen. Und in unserer Krisenregion der Wolke zwischen Gundremmingen und Regensburg leben weit über eine Million Menschen.

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Wenn sich weniger als die Hälfte davongleichzeitig in das Auto setzt und losfährt, bricht der Verkehrgleich wieder zusammen. Von hinten die Wolke, von vorne der Stau, dazu die Duldsamkeit des deutschen Autofahrers in Bewegungslosigkeit,das alles ist keine erfreuliche Vorstellung. Egoismus, Unfälle.Liegengebliebene Fahrzeuge, Benzinmangel, kilometerlange Staus an Tankstellen, jeder ist sich selbst der nächste, solange ihm nur nicht das Cäsium zu nahe tritt. Es gibt, das begreifen deutsche Autofahrer allerdings nur selten, einen Unterschied zwischen Höchstgeschwindigkeit und tatsächlich gefahrener Geschwindigkeit, oder anders gesagt: Auch im Stau ist die stark motorisierte Elite nicht gleicher als andere.

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Zumal in Krisensituationen nicht gesichert ist, dass alle Strassen offen sind. Normalerweise ist es eher schon seit der Epoche der Pest so, dass man nur ungern Katastrophenopfer aus einer Krisenregion in einem verschonten Gebiet aufnimmt. Dekontamination heisst die moderne Version des Leprosenheimes, deshalb stellt man Checkpoints auf, macht Strassensperren und verengt die Durchfahrt. Schlecht, wenn die Baubreite einer S-Klasse 2,20 Meter ist. Mein Chesini ist, vollbeladen, so breit wie meine Hüfte. Es kommt durch jeden Stau und durch jede Strassenverengung. Notfalls eben durch den Wald daneben.

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So ein Auto wird, nebenbei gesagt, auch langsam, wenn die Strasse irgendwo aufhört. Sei es nun, dass man sie blockiert oder aufreisst – gerade das Überwinden von Hindernissen jenseits der Bodenfreiheit ist ein arges Problem mit vier Rädern.Man denke nur an einen querstehenden LKW, oder einen ausgeplünderten Tanklastzug zwischen den Leitplanken einer Autobahn: Da gibt es kei nEntrinnen. Auch der Radler muss bremsen. Absteigen. Schieben. Darüberheben. Wo immer ein Mensch darüberklettern kann, kann erauch das Fahrrad mitnehmen.

Ein Fahrrad ist übrigens auch auf Strecken fahrbar, auf denen kein Auto mehr voran kommt. Abgesperrte Feldwege. Saumpfade. Schotterstrecken. Wenn man ein Rad mit schweren,robusten Hochprofilfelgen und pannensicheren Reifen hat, kann man mit dem Rennrad ganz erstaunliche Dinge machen. Man kann alles tun, was ein Fussgänger tut, aber mit Geschwindigkeiten, die höher als die der normalen Wolke sind. Es ist flexibel, wendig, und vor allem autonom. Sollte der Stahlrahmen brechen, kann ihn jeder Schlosser schweissen. Es läuft, solange man nur tritt – was man mit der Wolke im Rücken sicher gerne tut – unter normalen Konditionen 4000 Kilometer. Danach wäre eine neue Kette nicht schlecht, aber es gehen auch 2000 Kilometer Hamsterfahrten mehr, wenn man es nicht ganz perfekt ohne Geräusche ertragen kann. Ein gutes Rennrad hat einen Wirkungsgrad von bis zu 97%. Es ist, wie die bessere Gesellschaft sein sollte, es steht für sich und braucht niemanden, es gehorcht einfachen Regeln und übersteht die Jahrhunderte, es ist simpel, robust und durch den Fahrer vom Willen beseelt, die Herausforderungen zu meistern. Dem Auto ohne Benzin ist es vollkommen egal, was der Fahrer will. Es steht, und die Wolke bewegt sich.

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Es hat schon seinen Grund, warum man nach dem letzten Krieg das Rad reparierte und den Automüll verschrottete. Es hat seinen Grund, warum in Japan die Räder aus dem Schutt gezogen werden, und sich niemand um das Statussymbol Auto schert. Das Rad mag langsamer sein, und man muss sich anstrengen, es zwingt zur Haltung und ist mitunter unbequem, wie die Klasse, der zu entstammen mir vergönnt ist. Es ist das einzige Fluchtmittel, das nur das tut, was der Fahrer möchte, und sich nicht um Strassensperren, Staus, Tankstellen und Überhitzung scheren muss. Es braucht 6 Stunden an den Tegernsee, bei gemässigter Fahrweise. Das ist viel, wenn man ansonsten in einer Stunde 20 Minuten fährt, aber eventuell auch ein ganzes Leben, wenn das Rad der Hochtechnologie zu weit gedreht wurde. Ihr Tegernseer, Chiemseer, Schlierseer und Salzburger Steueroptimierer: Kaufen Sie sich ein hochwertiges, gebrauchtes, altes Stahlrennrad zu Ihrer Zweitwohnung zwischen Kernkraftwerken. Es wird sie stets zurück in die Berge bringen.

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Und wenn es nicht nötig sein sollte,ist es gut für Ihre Figur.