Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Ornament und bürgerliches Verbrechen

Nicht allen ist es erlaubt, London zu betreten - etwa, wenn die Gesundheit einen bösen Streich spielt. Somit bleibt der Verfasser bereits am Taunus liegen, wo er seine Chronistenpflicht am vorhandenen Deutschen Haus ableistet, statt sich in der Welthauptstadt der Neugotik über den gebauten Anachronismus und seine tiefere Bedeutung zu wundern.

Out flew the web and floated wide- the mirror crack’d from side to side;
Alfred Tennyson, The Lady of Shalott

Am skandalös frühen Morgen, um 10.36 Uhr verlässt mein ICE das Vortaunusstädtchen Frankfurt a. Main in Richtung Brüssel, und von dort aus geht es mit dem Eurostar nach London. Ich trage eine schwarze Rolex Oyster, Socken von Burlington, einen nachtblauen Pyjama mit dünnen, roten Streifen und eine silberne Teekanne. Der Zug nimmt Fahrt auf, rumpelt etwa einen Kilometer von mir entfernt durch Griesheim, und rast Richtung einer Stadt, in der gutes Essen den gleichen Stellenwert wie gute Politik in Berlin hat. Am Samstag findet in London der Tweed Run statt, aber dieses Spektakel ist nichts gegen das, was in meinem Kiefer zur Aufführung kam, nachdem ich die Bahnkarte erworben habe. Die Entzündung sei psychosomatisch, spottet eine liebe Freundin, mein Innerstes wollte zurück nach Italien. Deshalb bin ich nicht an Bord des Zuges, deshalb wird man in London andere vergiften, deshalb muss ich weiche Marzipantorte essen, deshalb muss der geplante Beitrag über die Untauglichkeit der Bahn für echte Reisende ausfallen, wie alles andere auch, und ich trage Pyjama und Übergewicht, das ich mir in Erwartung von fünf Fastentagen in London angegessen habe. Aber Sie, liebe Leser – Sie wollen trotz all der Un- und sonstigen Pässlichkeiten bespasst werden.

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Genauere wissenschaftliche Erklärungen dessen, was mich von der Reise abgehalten hat, würden Sie vermutlich nicht darüber hinweg trösten können, dass damit auch er geplante Beitrag über das schauderhafte, vor allem spätere Gothic Revival des victorianischen Zeitalters ausfallen muss – sogar bei Teekannen greife ich lieber zu Exemplaren der edwardianischen oder georgianischen Epoche. Zum Glück jedoch ereilte mich die Niederstreckung in einem Ortsteil, der in Zeiten des Historismus erblühte, und gleich um die Ecke ist das, was Sie dort oben im schlimmsten Detail sehen: Das deutsche Haus.

Das deutsche Haus ist nicht gerade neogotisch, sondern ein Stilmischmasch. Der Herold? Stadtbläser? Wächter? mit Trompete, Fahne und einer sehr unvorteilhaften Gesichtsbehaarung, die alle breiten Anlagen nur noch betont, nimmt auf die Mitte des 16. Jahrhunderts Bezug. Die mit vorgetäuschten Zinnen bekrönten Spitzgiebel wirken dagegen etwas älter, und erinnern an Bürgerhäuser der 2. Hälfte des 15. Jahrhundert. Die breiten Fenster mit ihren leicht gerundeten Fensterstürzen berufen sich auf die Renaissance. Ganz unten und entlang der Hauskanten hat man roh behauene Quader gesetzt, wie sie in der Zeit der Staufer an Türmen und Häusern sehr modern waren. Kurz, das deutsche Haus, das hier im Viertel als Inbegriff der auffälligen Architektur des wilhelminischen Zeitalters gelten darf, ist mit jeder Menge Deutschtum – oder was man dafür hielt – früherer Zeiten übergossen.

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Man stelle sich jetzt noch einen Männerchor dazu vor, lauter breite Gestalten, die 10 Jahre älter und unvorteilhafter aussehen, als sie sind, und nochmal 10 Jahre geistig unbeweglicher, und dieser Chor intoniert der an dieser Stelle unter dem Herold “Heil Dir im Siegerkranz”. Oder den “Trompeter von Säckingen”. Oder “Oh Du alte Burschenherrlichkeit”. Oder “Als die Römer frech geworden”. Oder Schlimmeres, das 19. Jahrhundert, das so vielversprechend mit Heine und zarten Biedermeiermöbeln begonnen hatte, bekam zum Ende hin so einen gewissen Drall… man muss es sich nur vorstellen. Wie es wäre, wenn man so eine Darbietung eine Stunde ertragen müsste. Und danach den Kaiser hochleben lassen. Und danach mit einer Stütze der Gesellschaft die Plastik am Hause wohlwollend besprechen. Sicherlich stimmig. Es gibt Vergangenheiten wie die Pest bei Boccaccio oder den 7-jährigen Krieg bei Voltaire, die bei allem Schrecken durchaus ihren menschlichen Charme bewahrt haben. Und eben andere – deutscher Historismus, Wiener Barock, Gothic Revival – anhand derer man sich die Frage stellen kann: Wäre die Sache nicht doch besser gelungen, wenn man sich nicht gar so deutlich auf eine Ideologie, hergeleitet aus einer ebenso zusammengeschusterten wie idealisierten Vergangenheit, verlassen hätte?

Denn die Erbauer von Neugotik wollten nicht spielen, sie meinten das ernst. Ob nun Westminster Palace in London, das Rathaus von München oder eben dieses deutsche Haus: Nichts davon sollte ironisch, skurril oder “gothic” im Sinne von schauerlich wirken, man wollte beeindrucken mit Geschichte, Vergangenheit und Tradition. Derartige zurückgreifende Legitimierungsbemühungen haben es nun mal so an sich, dass man sich keinerlei Hohnlachen dazu wünscht, heute nicht und morgen auch nicht. Westminster Palace gilt immerhin als Sehenswürdigkeit, Japaner und Amerikaner bestaunen das Müncher Glockenspiel, aber hier nun, in der mittelmässigen Adaption als Dekor, Ornament und Verbrechen ist die ganze Erhabenheit dahin.Von hier ausgehend, muss man – pardon – in Richtung München und London sagen: Die anderen haben ihre nicht so ganz vorhandene Geschichte nur besser und grösser vorgetäuscht.

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Die nettere Interpretation solcher Bauten unterstellt ihren Schöpfern, sie seien angeödet von den Massenprodukten und Umwälzungen der Industrialisierung gewesen, und hätten sich in eine Epoche der Handwerker, Zünfte und stabiler Ordnung zurück geträumt: Der Historismus als gebautes Manufactum des 19. Jahrhunderts. Weniger nett ist dagegen der Vergleich der damals modernen deutschen Tugenden, von denen Opern, Romane und die Gartenlaube kündeten, Bescheidenheit, Anstand, Fleiss, Sparsamkeit, Sittsamkeit, Keuschheit, mit den gebauten Monstrositäten, die eine ganz andere Geschichte erzählen. Verschwendung, Geltungsbedürfnis, Aufschneiderei, das Heraushängenlassen von Qualitäten, hinter denen ganz normaler Backstein verbaut ist, die Obszönität des goldenen Horns auf Unterleibshöhe, die Arroganz, die aus Türmen und Zinnen spricht. Über dem Eingang steht in goldenen Lettern “Grüss Gott”, aber das gilt nicht für Humor, Ironie und leises Kichern.

Dieses deutsche Haus eines auf dem Grillhendlspiess der Geschichte geistig-moralisch gewendeten deutschen Bürgertums, das erst in unseren Tagen langsam verblasst – dieses Haus ist eine bierernste Angelegenheit. Was vielleicht auch der Grund ist, warum sich darin heutzutage keine Gastwirtschaft auf Dauer halten kann. Immer wieder wird es versucht, aber fast macht es den Anschein, das Haus sabotiere jeden Anlauf, in ihm etwas anzubieten, das nicht Sauerkraut, Bier und Eisbein in Aspik ist. Glaubt man, dass es ein wahrhaft deutsches Haus ist, dann singt man darin gerne traditionell vom Gott, der Eisen und Worschtberge wachsen liess. Ringt man sich aber dafür ein ironisches Lächeln ab – geht man vielleicht doch lieber woanders hin. Es ist leider zu bombastisch, um noch als amüsante Irrung gelten zu können. Und nicht monumental genug, um davor wohligen Schauder zu empfinden. Oft denke ich mir: Was für ein Glück, dass meine Familie damals keinen Neorenaissanceklotz gebaut hat, sondern einen richtigen Renaissancewohnsitz erwarb.

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Mitunter neigt man dazu, der Bürgerlichkeit ein nahes Aussterben nachzusagen, und tatsächlich habe ich oft den Eindruck, dass diese neue Welt, das neue Deutschland, das uns bald aus neuen Zahlen entgegen tritt, wenig von den alten Befindlichkeiten des Westviertels hält. Man wird sich etwas einfallen lassen müssen, um nicht bedeutungslos zu werden, aber wie man hier sieht: Man klebe besser keine unvorteilhaften Requisiten vergangener Zeiten an die Häuser, erfinde sich dazu Sekundärtugenden und denke, damit sei die Zukunft bewältigt. Aussterben ist nicht schön; das hat die alte Bürgerlichkeit im ersten Weltkrieg dann auch Heil Dir in Siegertrance wo Eisen wuchs vorgeführt. Aber wenigstens sollte man dabei eine Substanz hinterlassen, zu der den Nachfolgenden Erfreulicheres als das Netteste einfällt, das mir beim Historismus in den Sinn kommt:

Ts.