S’il n’y avait pas de Pologne il n’y aurait pas de Polonais!
Alfred Jarry, Pere Ubu
Natürlich war der Eiserne Vorhang gefallen. Da drüben im Osten. Und man hatte auch mitbekommen, dass Polen mit Lech Walesa jetzt einen Präsidenten hatte, der vielleicht zum Papst, aber ganz sicher in diesem Aufzug nicht ins Parkcafe kommen würde. Auch nicht ins Nachtcafe, in dem wir halb drinnen, halb draussen am Rande der Terrasse sassen und über vieles redeten, aber sicher nicht über den Osten. Eine Bekannte war damals nach Berlin zum Mauerklopfen gefahren, die anderen schüttelten den Kopf, blieben natürlich hier und hatten andere Interessen. Es wurde Winter und wieder Sommer, und wir waren, wo wir immer waren. Das Nachtcafe war eine Art Heimat, die zu verlassen niemandem vor 5 Uhr morgens eingefallen wäre. In diese entspannte und angenehme Stimmung kam der leichtlebige T. dazu, dessen Eltern Arztpraxen mit lukrativen Schwerpunkten hatten, von denen er eine irgendwann, vielleicht, so er das Studium denn schaffen sollte, was damals aber zu bezweifeln war, übernehmen würde. Man wusste von seiner Familie, dass sie, blond, schlank und gross, nicht aus Bayern kam. Was man nicht wusste war, dass der Vater von T. aus Schlesien kam. Man würde es aber gleich erfahren.
Denn T. war eine Woche verschwunden. Und als er dann wieder erschien, war er aufgewühlt, verstört, ja vielleicht auch ein wenig missmutig. Seine Eltern hatten ihn, die Gelegenheit der gefallenen Restriktionen nutzend, ins Auto gepackt, und hatten die schlesische Heimat der Vorfahren besucht, die selbst sein Vater nur noch als kleines Kind erlebt hatte. Man wusste, dass es dort eine Fabrik gegeben hatte, ein hübsches Haus, aussenrum ein Dorf und dann einen riesigen Wald. Hemden habe man dort genäht und vertrieben, bis man eben selbst und ganz anders vertrieben wurde, nicht mehr zurückschaute und neue Wege ging, die, insgesamt betrachtet, vermutlich besser als die eines Fabrikbesitzers in einem Krisensektor zwischen Wäldern waren.
Aber die rationale Überlegung ist das eine, das Gefühl das andere. T., der in jenen Tagen zum allerersten Mal in seinem Leben ein Land des Ostens bereiste, war empört über das, was er gesehen hatte. Die Fabrik, die in den Erzählungen der Grosseltern ein Jugendstiljuwel gewesen sein soll: Ein runtergewirtschaftetes Industriegelände mit hässlichen Anbauten. Die Villa: Ein sozialistisches Heim für irgendwas. Die Leute: Meist erst nach dem Krieg hier angekommen, folglich ohne Erinnerung. Wer noch von früher hier war: Kein besonderes Interesse an den Altnichtmehreigentümer. Der Wald: Wunderschön und geheimnisvoll. Und leise schwang vielleicht auch etwas Enttäuschung mit, dass Fabrik und Villa nicht ganz so famos, funkelnd, ornamental und eindrucksvoll waren, wie in den Erzählungen. Gleichzeitig aber auch Entzückung über all das schöne, weite, unberührte Land.
Es gährte es eine Weile in T., und oft kam er auf das Thema zurück. Es mag auch ein wenig Unzufriedenheit mit dem Studium, mit der Erfahrung mit realen Durchschnittspatienten und Testaten gewesen sein, dass ihm die Idee einer privaten Zukunft in den fernen Wäldern Polens – oder Schlesiens, wie er dann stets betonte – nicht aus dem Kopf ging. Mit Hemden und allen anderen Arten von Herrenoberbekleidung hatten wir damals von der Käuferseite her sehr viel Ahnung, bis an die Grenzen der Dispokredite. T. dachte nach. Informierte sich. Fuhr noch einmal – ohne seine Eltern diesmal, die ihn stante pede enterbt hätten, wenn er Ideen wie Studienabbruch und Firmenbesitzerwerden vorgetragen hätte – über die Grenze, durch die weiten, grünen Wälder, sah sich alles sehr lange an. Überlegte. Nach jedem eher ungut verlaufenen Testat. Verlor darüber die Freundin. Einem anderen, der BWL studierte im Sinne von “er wollte nachher ernsthaft eine Karriere und nicht nur Sohn sein” und nebenher einige Dinge in der DDR tat, gelang es letztlich, T. die ganze Geschichte wieder auszureden. Es blieb die Sehnsucht. Einige Jahre später – die Fabrik war längst insolvent und in undurchsichtigen Verkäufen unerreichbar geworden, T. hatte doch irgendwie die Kurve gekriegt – gestanden sich dann Vater und Sohn ein, wie sehr sie damals…
Man hört ja oft, dass Menschen den verlorenen Paradiesen der Kindheit hinterhertrauern, den Erinnerungen an alte Häuser der Grosseltern, an geheimnisvolle Schränke und den Geruch von Eierlikör beim Käseigel beispielsweise. Beim Vater von T. waren es die Steinpilze, so gross wie zwei Hände, die im Sommer aus dem sandigen Boden die Köpfe in den blauweissen Himmel über den Kieferwäldern hoben. Es hat fast immer etwas mit Wiesen, Feldern und Bäumen zu tun, mit Früchten und Genüssen, mit einer gewissen Freiheit des Daseins und frischer Luft, mit einfachen Speisen und Tieren. Ist an dieser Stelle heute vielleicht ein Einkaufszentrum oder eine Siedlung, wurde ein Haus verkauft, abgerissen und an seiner Stelle drei neue Toskanabunker errichtet, wie so oft in Deutschland, kann die Phantasie die Realität noch ausschmücken und verschönern, die Erinnerung geht über die Erzählung an die Kinder, die sich dann wieder ein Haus im Grünen bauen. Oft genug bleibt einem das alles auch erspart, weil Eltern oder Kinder einfach zu stur sind, etwas Liebgewonnenes zu verkaufen, eine Baum fällen zu lassen oder mit sinnlosen Moden zu gehen. Eltern reden manchmal davon, dass man vielleicht später das Haus verkaufen müsste, um etwas anderes zu finanzieren. Kinder denken sich dann im Stillen: Ungern.
Aber, das muss ich zugeben: Für Menschen, die solche romantischen Anlagen mitbringen und vertrieben wurden, ist Schlesien mitunter eine wirklich harte Erfahrung. Man kann sich dort nicht sagen, man hätte es aufgegeben, weil man eine Alternative hatte. Man sieht aber gleichzeitig sehr genau, wie dieses “Früher” gewesen sein muss, bei all seinen Schattenseiten und Grausamkeiten der Vergangenheit. Relative Armut und die Schrecknisse des 20. Jahrhunderts sind nichts, was man sich noch einmal wünschen würde, aber oft genug kommt man nach Kilometern durch diese sattgrünen Wälder in ein Dorf, das aussieht, als hätte es die letzten 65 Jahre verpasst. Und dort beschleicht einen sofort dieses Gefühl, man bräuchte nur etwas Farbe und Geld und etwas Entroster für die Eisenteile, die Antennenschüssel weg und die alten Kastenfenster und Türen genau so lassen, damit es wieder so wird, wie es sein sollte. Man übersieht dabei geflissentlich, dass es auch vor 1945 wenig gepflegte Bausubstanz gab, deren Bewohner auf den Feldern und in den Fabriken auch nicht gerade ein leichtes Leben hatten.
Die realen Probleme so einer Rückgewinnung der Paradiese sind es dann wohl auch der Grund, warum so wenige wirklich nach 1989 wirklich über die alten Kopfsteinpflaster zurück in ihre Häuser gegangen sind – ganz gleich, wie sehr sie früher gegen die Akzeptanz der Oder-Neisse-Grenzen waren. Es blieben die Schlesier und die Böhmen, die Ostpreussen und die Banater Schwaben, und meist auch jene, die früher ihre Heimat in Ostdeutschland hatten, selbst wenn die alten Anwesen wieder auf den Markt kamen, und der Erwerb innerhalb der EU unproblematisch ist. Die Steinpilze sollte man nach Tschernobyl ohnehin nicht mehr essen. Der Himmel ist auch auf den Seychellen blau, die Wälder duften auch bei der Marina in Kroatien, die Kinder werden neue Paradiese finden, denen sie hinterher trauern, wenn sie nicht gerade im Chinesisch-Kurs eines polyglotten Kindergartens ruiniert werden. Irgendwann werden vielleicht auch die Vertriebenenverbände und die Pfleger seltsamer Trachten, die kein Mensch mehr trägt, verschwinden, wie auch die Erinnerung, die nicht zwingend angenehm und nicht unbedingt westviertelkompatibel ist. Nicht immer waren in Bayern die Worte über Flüchtlinge von ausgewählter Freundlichkeit. Nicht immer war es das reine Desinteresse, das uns, die Hiesigen gegenüber der Melancholie unempfänglich machte.
Oft wünschte man sich hier in diesem Blog, ich würde einmal nicht nach Italien oder in die Schweiz fahren, sondern in den Osten. Ich habe es getan, und denke, man sollte es sich anschauen. Polen ist schön, es hat phantastische Wälder, die Strassen entschleunigen, und es ist aus vielerlei Gründen angenehm. Vor allem aber sollte man hinfahren, wenn ein Vermögensberater, ein reicher Freund, ein Vertriebler meint, man könnte doch das alte Haus verkaufen, und statt dessen in dieses oder jenes investieren, der Herr Doktor Soundso mache das auch, und habe statt Ärger jede Menge Rendite. Das mag alles sein, und vielleicht stirbt er auch, bevor er einen Anlegerprozess führen kann, aber so oder so verliert man bei diesen selbstgewählten Vertreibungen auch ein Stück Selbst. Das Gartentor, das Knarzen der Treppe, den Steingarten, in dem Eidechsen huschten, den Apfelbaum. Mit einem Polen kann ein Vertriebener zumindest theoretisch einige der bösen Geschichten vieler Jahrzehnte, den Fluch des 20. Jahrhunderts etwas, ein klein wenig rückgängig machen, oder mit sich ins Reine kommen.
Mit einem Anlageberater und einem Abrissbagger ist das so gut wie unmöglich.