Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die richtigen schlimmen Katastrophen in den Villenvierteln

Viele schlimme Momente des Daseins sind unvermeidlich: Tod, Krankheit, Steuererklärung, gebrochene Herzen und Nichtganzeinskommenullabiture. Um so wichtiger ist es, neben dieser Pflicht des Schreckens die Kür der anderen Probleme so zu gestalten, dass sie mit einer guten Torte und Tee behebbar sind.

NEEEEIIIIIIIIIIN!

Als der verzweifelte Schrei die Stille über dem Villenviertel zerreisst, und auch das Pang Plopp Pang Plopp des Tennisplatzes noch übertönt, vermag man ahnen, dass auch hier das Leben nicht ohne Schicksalsschläge bleiben kann. Manchen ereilt es im Beruf, manchen am Steuer des Autos, und wieder andere stürzt das Schicksal am Sonntag über dem Kuchen in den Abgrund. Aber von vorne.

Es begann damit, dass Iris mich brauchte. Ich brauche Dich, sagte sie, und wüsste man nicht, dass der letzte Mann, den sie partout gebraucht hat, ihr Ex-Ehemann ist, der heute noch laut unter den Umständen der Trennung mit Zwangshausverkauf leidet – dann hörte man das gerne. Ich brauche Dich, sagte sie also zu mir, und das bedeutet zumindest bei mir keine Gefahr für Leib und Liebesleben, sondern nur, dass sie eben etwas braucht, das ich tun soll. Etwa ihre Bremsen am Rad einstellen, die wie Esel beim Geschlechtsverkehr quietschen. Oder sie hat einen Auftrag, hat sich aber vertrödelt, und etwas muss ganz schnell passieren.

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Wie etwa das Erdbeerenpflücken. Im Zuge der allgemeinen Vergrünerung der herrschenden Klasse ist es eher ungewöhnlich, Erdbeeren im Supermarkt zu kaufen, wo man weder weiss, wie alt sie sind, noch wer sie gepflückt hat. Früher war das eigene Erdbeerpflücken eher ein Akt der Sparsamkeit und der Gelegenheit, denn das Villenviertel liegt genau zwischen Erdbeerfeld und Tennisplatz. Heute macht man das, weil es sich so gehört. Man kann nicht mehr sagen “Die Erdbeeren vom Kuchen kommen von einem Discounter”, man würde sich zurecht, wie ich meine, bis auf die Knochen blamieren, es entstünde gleich ein unschönes Bild mit Neonröhren, Menschen mit fragwürdiger Hygiene und dem Versuch des Einkäufers, aus einem vergoren riechenden Stapel Schalen hervorzuziehen, deren Früchte hoffentlich noch kein EHEC-Kind angelutscht hat. Erdbeeren müssen frisch von der Pflanze sein. Und selbst gepflückt. Weil das aber alle so machen, ist die Wiese vor dem Erdbeerfeld voller Geländewägen und die Plantage selbst ziemlich ausgeräubert. Es dauert, bis man zwei Kilo mit gebeugtem Rücken eingesammelt hat.

Ausserdem hat Iris empfindliche Hände, mein Ruf als Jäger und Sammler ist flohmarkterwiesen, letzhin erst griff ich die pralle Malfrucht einer Münchner Schularbeit aus einem Kasten voller wertloser Drucke, und deshalb braucht sie mich. Sie ist so wild auf meine Erdbeerkunde, gerade, wenn es schnell gehen muss. Und das musste es, denn daheim wartete schon die Haushälterin ihrer Mutter mit dem fast fertigen Kuchenboden. Den man natürlich auch kaufen könnte, aber dann wäre er nicht mit Pudding gefüllt. Das nämlich ist die Kunst der Haushälterin: Den Pudding gleich in den Kochenboden mit einzubacken. Dergleichen erfordert volle Konzentration und genaues Timing, die Erdbeeren müssen im richtigen Moment drauf, damit sich der gefüllte Boden nicht verformen kann. So war es dann auch unsere alleinige Schuld – Iris, weil sie mich zu spät informiert hat, ich, weil ich nicht schnell genug Beute fand – dass die Haushälterin bereits einen anderen Plan B entwickelt und vermittels einer Leiter beim für ein paar Monate nach Asien verreisten Nachbarn den Kirschbaum geplündert hatte.

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Und so war alles in der Küche vereint, was da sein musste: Die Kirschen als Reserve. Die Erdbeeren. Der Tortenboden aus dem Ofen. Und die Mutter von Iris. Letztere sehr betreten. Bessere Mütter haben so einen spezifischen Gesichtsausdruck, der vom Unvermeidlichen spricht: Etwas Schlimmes ist passiert. Eine Katastrophe. Noch ist sie nicht bekannt, noch ahnt niemand, dass sich alle Hoffnungen und Träume in einen Abgrund gestürzt sind, aber bald wird es jeder wissen, und dann wird grosses Klagen sein. Manchmal werden Kinder beim Diebstahl erwischt, oder werden in der Schule nicht versetzt. Es gab einen schweren Unfall mit Alkoholeinfluss. Aus irgendwelchen Gründen wird die Polizei kommen, und alle Nachbarn ausser der Hälfte, die gerade verreist ist, werden es mitbekommen. Es war Blick der unvermeidlichen Katastrophe, und Iris sah es und fragte sofort: Ist was passiert?

Ihre Mutter sagte gar nichts. Was dann stets bedeutet: Wenn ich es sagen würde, würden es auch Leute mithören, die es noch nicht wissen. Und das wäre schlimm. In solchen Momenten zerbricht die grossbürgerliche Selbstgewissheit, die ansonsten stets präsente Überzeugung, dass hier auch das irgendwie gut ausgehen wird, was bei anderen, weniger Glücklichen das Ende bedeuten kann. Geld kann viele Schicksalsschläge mildern. Clans wie der von Iris sind, was sie wurden, weil sie über Jahrhunderte hinweg immer einen Ausweg bezahlen konnte, aber gewisse Dinge – da ist der Mensch machtlos. Tod, schwere Krankheiten, der Untergang des Euro in Griechenland, das alles findet seinen Weg in diese Villen. Und – ich sah mich um. Ich sah es. Ich verstand. Und in jenem Moment kam auch jemand die Treppe herunter. Iris Mutter zuckte mit den Schultern. Wir waren, wie es so schön heisst, nun alle in Gottes Hand. Dann ging die Tür auf, und die Haushälterin kam herein. Sie begrüsste uns, wollte sofort die Erdbeeren haben, weil ja der Tortenboden, der Tortenboden

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NEEEEIIIIIIIIIIN!

  Das war nämlich auch schon letzte Woche passiert. Niemand würde so etwas übel nehmen, aber bei Haushälterinnen vom alten Schlag ist das auch gar nicht nötig. Immerhin, wir waren vorgewarnt. Wir wussten, was kommen würde. Wir hatten verstanden. Ich betonte sofort, dass er sicher ganz vorzüglich schmecken würde, Frau Mama sagte “Aber bitte”, Iris nahm die Schuld wegen der späten Erdbeeren gleich auf mich, worauf die Haushälterin sich wieder fing und mit einem “Ach paperlapap” zum Ausdruck brachte, was sie von Iris und ihren Herderfahrungen (Fertignudelsuppe in Plastikbecher besser nicht auf der Herdplatte kochen) hielt, und natürlich sagte, dass der Boden länger in den Ofen gehört hätte, Iris davon nichts verstünde – und dann schubste sie uns beiseite und warf den eingefallenen Boden nochmal in den Ofen. Überhaupt, dieser Ofen. Mit einem Gasofen wäre das nicht passiert. Sie nahm es nicht sportlich, sie nahm es nicht professionell, sie nahm er persönlich und pflichtbewusst. Es war eine umfassende, demütigende Niederlage. Und natürlich wussten wir alle: Besser hätten wir uns vorher aus der Küche geschlichen und so getan, als hätten wir es nicht gesehen.

Der Boden ging im Ofen gleich wieder hoch, die Haushälterin massakrierte die Erdbeeren mit bald blutroten Händen, wir sassen auf der Terrasse und Frau Mama erzählte, wie verletzlich die Haushälterin bei solchen Dingen ist: Sie ist eine Perfektionistin. Man könnte mit dem Metermass den Tisch nicht genauer decken. Tomaten müssen genau die richtige Grösse haben. Dann ist so ein eingefallener Tortenboden nicht weniger als der Krater eines Schicksalsvulkans, in den man stürzt. Auf einem Baum sang eine Amsel. Die Katze schlief. Und wir alle hofften, dass im Ofen, bei 180 Grad, alles gut gehen würde. Wenn wir nur Gas hätten, seufzte Frau Mama. Wir sollten es uns legen lassen. Gas ist toll, pflichtete ich bei, überbacken mit Gas ist einfach himmlich. Vielleicht könnten Sie sich mit meiner Tochter einmal umschauen, regte Frau Mama an. Ha, drang es aus der Küche. HA! Noch einmal. Es war gelungen, trotz aller Schicksalsschläge.

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  “Das ist alles noch kein Schicksalsschlag”, war denn auch eine der Lebensweisheiten meiner Grossmutter, dem die Haushälterin kaum beipflichten würde: Wenn so etwas in einer Woche zweimal scheitert, dann ist es wirklich schlimm. Andererseits muss man bei all der Bedrängnis und Aufregung des Tages auch sagen, dass es ab und an unvermeidlich ist. Und wenn man schon den ganzen Ärger, das Unbehagen und diese peinlichen Momente hat, die verlegenen Blicke und die Scham, dann sollten sie wenigstens wie diese hier sein: Ein eingefallener Tortenboden, eine entsetzte Haushälterin, hin und wieder muss eine Katze zum Tierarzt, weil sie sich mit einem Kater angelegt hat, und allenfalls eine Scheidung, wie sie heute die meisten haben – aber immer so, dass man es mit Geld regeln kann. Man entgeht nirgendwo den Problemen, es gibt immer Dramen und schlimme Augenblicke, bis dann wieder in Ruhe Kuchen und Tee serviert werden kann. Aber bis dahin sollte man sich mit dem Elend abfinden und Sorge tragen, dass es keine richtig schlimmen Katastrophen werden, sondern nur die richtigen schlimmen Katastrophen. Ich denke, das macht im täglichen Leben den eigentlichen Unterschied aus, zwischen uns und den anderen. Pang Plopp tönt es vom Tennisplatz herüber. Eine Katze will etwas zu essen. Morgen wird es die Haushälterin vergessen haben.

  Und das Wetter soll schön werden.