Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Putzen im Grossbürgerkanon 1: Ballett

"Mag der Herr Graf ein Tänzchen wohl wagen" singt Figaro kurz vor seiner Hochzeit, und droht, ihm dann aufzuspielen - ein deutliches Zeichen dafür, dass ihm das Hüpfdohlentum des Grafen gegen den Strich geht. Ähnlich genervt kann man von jenen Kulturbeflissenen sein, die dreist Verehrung für Kultursparten einfordern, die aus eigenem Verschulden zugrunde gehen. Da sollte man vielleicht ein wenig aufräumen in den Rumpelkammern des Kanons, und warum nicht mit einem Tänzchen beginnen?

Well, then a black girl with no clothes on
She danced across the room
We charted the progress of the planets
Around that boogie woogie moon
Nick Cave and the Bad Seeds, More News from Nowhere

Wir haben uns die Moderne nicht herausgesucht, und schon gar nicht: Die real existierende Moderne. Nun ist sie aber schon mal da, und man muss überlgen, was man von ihr für einen gehobenen Lebensstil brauchen und adaptieren kann, und was man besser anderen zumutet: Die Geschirrspülmaschine hat die Waschfrau ersetzt, das Auto die Kutsche, das Flugzeug die Bahn – alles hat seinen nachvollziehbaren Grund, selbst wenn man sich vor 100 Jahren nie hätte vorstellen können, dass es je so kommen wird. Die Geschichte der besseren Gesellschaft ist nun einmal eine Geschichte der vorsichtigen und gut überlegten Anpassung an Veränderung. Das eine kommt, das andere geht dafür. Anstelle des Hochzeitsgemälde wird nun ein Film gedreht. Nur beim Porzellan, da greift man immer noch zu Maria Weiss.

Bild zu: Putzen im Grossbürgerkanon 1: Ballett

Insgesamt jedoch ist zu bemerken, dass sich Veränderungen in den letzten 30, 40 Jahren durchaus erweitert haben. Nicht zwingend allein in Form von kürzeren Modezyklen, sondern in der Ausweitung der Möglichkeiten. Vor ein paar Jahren galt Bergwandern als Tätigkeit für alte Leute, heute erzählen die zugereisten Jungen auf unseren Waldfesten wo die eigentlich gar nichts verloren haben von alpinistischen Grosstaten. Das Bier das wo halt von uns am Tegernsee her kommen tut nicht wahr, das ist in Berlin inzwischen ein Szenegetränk. Man muss Spritz servieren können und eine Schinkenschneidemaschine besitzen. Man sollte sehr viel klassische Literatur kennen, daran führt kein Weg vorbei, aber auch Neues lesen, zu Not sogar aus dem deutschen Wortbreiraum. Es gibt eine Unzahl von Konzerten am See und Opernfestspiele in München und Tage alter Musik in Innsbruck und in Salzburg sollte man auch wieder einmal eine Messe hören, und zwischen Donau und Altmühl hat man auch Karten. Und nebenbei Karriere machen. Und eine Beziehung führen.

Eine Beziehung, die der Partnerin übrigens auch nicht mehr nur die Wahl der Kleidung überlässt, sondern einen eigenen Beruf. Und dennoch gilt es, den bürgerlichen Kanon erfüllend zu befolgen. Das war früher insofern einfacher, als man eben getan hat, was man neben Kirchgang, Oper und Ausfahrt tun konnte, und anderes eben nicht. Wer etwas angeboten hat, das zwischen dicken Torten und Daunenbetten keinen Platz hatte, musste auf die richtigen Besucher verzichten, machte pleite und erschoss sich bisweilen. Man mag all die gescheiterten Theaterdirektoren Europas bedauern – aber der Misserfolg trug dazu bei, dass die besseren Kreise stets gut unterhalten wurden. Heute dagegen haben wir Kulturpolitik und jede Menge Profiteure, die aufgrund einer behaupteten Zugehörigkeit ihrer Vorlieben zum Bildungskanon Förderung, Plätze im Schulunterricht, einen Posten im Rundfunkrat, Festivals und begleitende Symposien fordern, deren nachgedruckte Reden beim nächsten Kulturpolitiker oder was sich heute so nennt auf dem Tisch landen, als Beweis für die Bedeutung der Tätigkeit.

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Natürlich möchte ich nicht, dass sich jemand nach einer schlechten Inszenierung erschiesst oder eine Ballerina nach dem Ausrutscher Schlaftabletten schluckt. Ich will auch keinem die Förderung absprechen – es gibt weitaus dümmere Geldverschwendungen als Festivals, bei denen drei Viertel der  Besucher aufgrund von Mauscheleien keinen Cent Eintritt bezahlen, denn das kann einem auch bei einer Computermesse passieren. Es geht mir schlicht und einfach darum, anderen den Mund überpampen zu können, wenn sie mir sagen: “Aber bitte, die Soundso Primaballowitsch in der Choreographie mit Musik von jenem 12-Töner der letzthin in der Danse Moderne wegen seiner Inzenierung bei den Tagen der gelenkigen Körper in Bautzen so gelobt wurde – die müssen Sie doch gesehen haben.” Ich würde dann gerne mit einem: “Oh, aber absolut muss man den gar nicht gesehen haben” antworten. Schliesslich sage ich ja auch nicht “Waaaas? Sie haben in der Pinacoteca von Siena noch nie den Schleier der Madonna von  Duccio mit der Stoffauffassung der Lorenzettis verglichen? Was ist denn mit Ihnen los? Machen Sie Rheumadeckenbusfahrten nach Bremen?”.

Denn das sind die unangenehmen Seiten des Kanons, den zu befolgen uns obliegt: Er artet sehr schnell in Namedropping und Bildungshuberei aus. Je abseitiger die Themenbereiche sind, je seltener sie aufgesucht werden, desto verlockender ist es für die Restbestände der Begeisterten, ihr eigenes Interesse hervorzugeben und als Wohltat für alle hinzustellen. Beim Ballett klingt das dann so an: “Also derundder und dieunddie sind in der Pause gegangen, die verstehen halt nichts von dem, was Pina Bausch vorangebracht hat.” Oder “Schon peinlich, wenn diese berühmten Leute, die auch schon in New York und Moskau umjubelt wurden – haben Sie das nicht in der Zeitung gelesen? Nein? – hierher kommen und vor einen halbleeren Saal auftreten müssen.” Sicher, der Kanon hat seinen Sinn und Urgrund natürlich darin, sich abgrenzen zu können gegen andere, aber seine Verwendung als Kampfmittel innerhalb der Klasse ist unfein, wenn es sich um schräges Spezialistentum von 110-ProTzentigen handelt. Gerade weil die Betreffenden wissen: Sie sind Minderheit. Was sie schützt, ist die Höflichkeit derer, die sie herabwürdigen, und die Erwartung, dass man den Kanon nicht genauer anschaut.

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In Sachen Ballett jedoch würde ein wenig Beschäftigung schnell zeigen, was für ein alter Zopf da auf Abschneidung wartet: Das Ballett, das wir heute als solchiges betrachten, hat seine Entstehungsphase in jener Epoche, da sich Grossbürgertum und Adel wie so oft, mal wieder, um die Macht stritten, und dabei auch auf dem Felde der Kultur aufeinander trafen. Jean Georges Noverre heisst der einflussreiche Theoretiker dieser Kunstform, der im 18. Jahrhundert die Strukturen des steifen und sehr prächtigen Hoftanzes aufbrach und mehr Natürlichkeit verlangte, mehr Pantomime, mehr Ausdruck, mehr Handlung: Ein dramatisches Geschehen, nicht weniger als die Oper, der oft genug belanglose Tanzszenen zugefügt wurden. Dazu – man sieht das auf den Bildern dieses Eintrags, entnommen einem Kupferstich der Zeit – wünschte er sich Szenen aus dem einfachen Volk und dessen Tanzvergnügen. Was heute ein wenig wie eine Ausrede für loses Treiben und fast nackte Brüste wirkt, war damals durchaus eine wichtige Entwicklung, weg von den höfischen Sphären, hin zum Menschen. Und man wird vorsichtig fragen dürfen, ob die Ideen von Noverre nicht vielleicht näher am heutigen Burlesquetanz liegen, als an jener reichlich akademischen Kunstform, die von hier, vom Sieg über den höfischen Tanz aus ihre Entwicklung zu den diversen und teils in heftigen Fehden liegenden Spielarten des Balletts genommen hat. Was heute als eigene Geheinwissenschaft manche begeistert und anderen, vorsichtig gesagt, eher verschlossen und fern bleibt., selbst wenn sie in ihrer Kindheit nicht auf den Zehenspitzen gefoltert wurden, bis ihnen die Arme einschliefen.

Aber all die Kinder, die tanzen lernen! Wird mancher sagen. Die Kleine vom Soundso machen das doch schon seit dem dritten Lebensjahr! – und genau das ist das Problem, denn in dem Moment, da Eltern ihre Kinder bei Tätigkeiten abladen, die ihnen selbst nichts bedeuten, aber die Kinder eine Weile anderweitig beschäftigen, ist eine Kultur keine Kultur mehr, sondern bestenfalls eine Konvention. Man macht das halt so mit den Kindern, wenn sie zu klein für das Pferd sind, und besser klingt als “im Dreck spielen lassen”. Die Lisa hat das auch angefangen. Es gab da auch so einen Hollywood-Film. An Weihnachten ist in der Staatsoper wieder der Nussknacker. Alles schön und gut. Nur – muss man deshalb Cranko von Neumeier unterscheiden können und überhaupt wissen, wer das war?

Bild zu: Putzen im Grossbürgerkanon 1: Ballett

Das wird dann einfach vorausgetzt. Man muss es nicht erklären. Es ist im Kanon, das weiss man eben. Ballett geht in der Vermittlung heute den umgekehrten Weg zur Alten Musik, die sehr erklärungsbefürftig ist, die mühsam dem Vergessen entrissen wird, und sich langsam, langsam, nach Jahrhunderten der weitgehend unterbrochenen Tradition aus der Ecke einer schwierigen Originalklangdebatte kommend, Verständnis erarbeitet hat. So viel Verständnis, dass ich ohne Bedenken CDs von Roberta Invernizzi, Simone Kermes und auch wirklich ausgefallene Aufnahmen von Marco Beasley verschenken kann. So viel Verständnis, dass der Saal auch in der kleinen, dummen Stadt an der Donau voll bleibt, wenn Gesualdo aufgeführt wird. Vielleicht würde jenes prunkvolle, höfische Ballett, das Noverre noch bekämpft hat, heute mehr Freunde finden, als das, was aus seinen tanzenden Schäferinnen inzwischen geworden ist: Etwas, das einen schnell das Thema wechseln lässt, wenn es zwischen Erdbeertorte und Maria Weiss sein schändliches Spezialistenhaupt hebt. Ich sage nicht, dass man es abschlagen sollte. Aber es gibt selbst verschuldete Gründe, warum es zu einer Sache für Spezialisten geworden ist. Und die passen, ganz im Gegensatz zu Roberta Invernizzis Händelarien oder der Erinnerung, als bei Simone Kermes die Wände in der Neuburger Bibliothek bebten, nicht in die Hochämter am Sonntag Nachmittag. Man muss sich mit so einem Kanon wohl fühlen, er muss angenehm und praktikabel sein.

Zwicken und stören und insultieren sollte er nur die anderen. Zu denen darf sich das Ballett auch gern bequemen – es wird sehen, was es davon hat.