Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Residenzen für Hütten und Paläste

Im echten Klassensystem weiss jeder, woran er ist: Der Arme weiss, warum er hungert, und der Adel weiss, warum er das spanische Hofzeremoniell erdulden muss. Der eine bekommt Skorbut in der Hütte, der andere Gicht im Schloss. Heute lösen sich die Unterschiede auf: Ein jeder kann alles haben, erst unten in den billigen Angeboten wühlen und danach hoch in die Residenz gehen, und auch Ziviliastionskrankheiten sind für alle da.

Wie da Herr, so as G’scherr
(Trad.)

Im Hof stellte mich die Mieterin vorsichtig zur Rede. Ob es mir denn nicht aufgefallen sei, dass die Papiertonne immer so voll sei. Und ob man nicht ein grösseres Exemplar bestellen könnte. Könnte man. Es würde leider mehr kosten, ich müsste das auf die Mieter umlegen, die den Müll doch eigentlich nicht produzieren, denn im Haus fällt mach dem Auszug des letzten Zeitungsabonennten weniger Papiermüll denn je an. Was schwer wiegt, sind dicke Packen von Werbebroschüren, die fast täglich vor dem Haus abgelegt werden. Der Papiermüll ist also ein Phänomen der Umwelt, nicht des Bedürfnisses der Bewohner, und wir sind überein gekommen, dass ich als ersten Schritt die Verteiler dazu anhalte, andere damit zu belästigen. Allerdings konnten die Verteiler, auf frischer Tat ertappt, mein  Ansinnen nicht nachempfinden: Was ich denn hätte, es sei doch umsonst, und für viele sei das willkommene Lektüre. Statt Neuigkeiten Waren, herbeigebracht aus aller Welt.

Bild zu: Residenzen für Hütten und Paläste

Und tatsächlich weist die Zunahme des Werbemülls grosser Geschäfte in Industriegebieten darauf hin, dass es sich wohl lohnen muss. Das Anzeigenblatt kommt kostenlos, so scheint es, aber es ist natürlich nicht umsonst, sondern finanziert sich aus den angehobenen Preisen, die laut diesen Broschüren so niedrig wie möglich sind. Dass da ein Widerspruch ist, scheint keine besondere Rolle zu spielen. Offensichtlich wird das gelesen, die Preise werden verglichen, und wer das billigste Angebot und bei der Rechnung bestanden hat, wird aufgesucht und darf sich über den Erfolg der Massnahme freuen. Der Wettbewerb um den niedrigsten Preis ist nur die eine Hälfte des Erfolgs – es geht nur, wenn der Kunde ebenfalls dieses Rennen mitmacht: Billiger, mehr Rabatte, mehr Gramm für den Cent, man wundert sich fast, dass es dazu noch keine typisch würdevolle TV-Show gibt: Die Maxi Kilo Show – wer für 100 Euro die meisten Lebensmittel einpackt, darf den Opel Insignia Kombi behalten.

Noch aber ist es ein normales Angebot, die Blätter werden dicker und grösser, die Zahlen schreiender, der Papiermüll wird noch schneller voll, und kaum einer dürfte sich daran im Gefühl delektieren, er wäre gezwungen, nach dem Billigsten aus bitterer Not Ausschau zu halten. Um der Kundschaft nicht das Gefühl zu geben, sie wäre vom Billigsten abhängig, nannten frühere Anzeigen gerne Preisspannen, etwa: Eingetroffen sind Zylinderbureaus in Kirsche, Nuss oder Mahagonie, grosse Auswahl an Bronzebeschlägen und Marketerie, von 2 Gulden bis 14 Gulden. Füe jeden ist etwas dabei, sagten diese Anzeigen. Heute bedienen sie nur noch den unteren Bereich. Der obere Bereich lässt sich anders demütigen: Dort, wo heute noch besagte Möbel zu 14 Gulden stehen. Denn was dem einem seine konsumfinanzierten Prospekte sind, sind dem anderen seine steuerfinanzierten Schlösser.

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Wo das absolute Gegenteil der billigen Konsumkultur zu besichtigen ist, inclusive Zurechtrücken der Illusionen: In so einem Schloss nämlich lernt man, wie bescheiden man doch eigentlich lebt. Ich, zum Beispiel, habe unmittelbar vor dem Schlossbesuch eine weitere Biedermeierkommode aufgestellt, die mit den Bronzebeschlägen und dem gestreiften Kirschholz vielleicht ein wenig verschwenderisch für ein Schlafzimmer sein mag – aber so ein Schloss lehrt einen Demut. Da geht noch viel. Man hat im Studium zwei Dutzend Abgüsse antiker Statuetten gesammelt? Hier stehen ein paar hundert aus Marmor. Man hat bunte Wände selbst gestrichen? Wie arm im Vergleich zu Seidenbespannung. Man hat so Gipslinien an der Decke? Stuck mag man das in solchen Räumen eigentlich nicht nennen. So, wie der Prospektbetrachter in die Tiefen seiner Existenz gedrückt wird, so lastet so ein Schloss schwer auf dem Betrachter, denn jeder Seufzer “So ein Prunk” sagt auch “Ich brauche unbedingt mehr Imariporzellan”.

Und natürlich nimmt es nicht Wunder, wenn neben dem Schloss und seinen Verlockungen das ein oder andere Geschäft für ganz ähnliche Gegenstände steht; so ein Schloss ist auch nur ein Prospekt, gewissermassen die obere Hälfte der alten Anzeige mit den höheren Preisen. Und so treibt es den Vermögenden dort hinein, und er tut Dinge, die den Erben später vielleicht weniger zusagen: “Du, Anton, schaug amoi, dea gloane Maschgara vom Buschdelli is a do” – nein, es ist kein Zufall, dass schräg gegenüber vom Schloss gleich der Fabrikverkauf, wenn man das so nennen darf, der dazugehörigen Porzellanmanufaktur ist. Dortselbst auch der feine Leuchter, den man im japanischen Teezimmer so hübsch fand. Möbel finden sich zwei Strassen weiter. Keine Schnäppchen, aber Gelegenheiten. Wenn man eh schon da ist, kann man das auch gleich mitnehmen.

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Viel, das muss man leider, leider zugeben, unterscheidet Prospekt- und Schlossbetrachter letztlich nicht; der eine sieht Trauben viel knackiger, als die matschigen Früchte nach einem Tag dann sind, der andere stellt daheim fest, dass die neue Preziose doch nicht ganz hineinpasst, und beide haben sie eigentlich schon vorher viel zu viel. Trotzdem ist in ihnen die Überzeugung, mehr zu brauchen und zu wollen, der eine möchte ein neues, dreiteiliges Badvorlegerset und der andere einen neuen Seidenteppich, denn die alten sehen jeweils schon so schäbig aus. Der eine findet ein Malerset für 2,99 und billige Farbe, die eine Massenzeitung offeriert, der andere sagt sich, dass er sich zumindest einen Raum auch mit etwas Brokatstoffen leisten könnte. Der Stoffhändler in meiner dummen, kleinen Stadt an der Donau hat ein Sofa gerade mit diesem weissroten Samt bezogen, und ich gehe nach dem Schloss ganz anders an dem Objekt vorbei, als vor dem Besuch. Aha, sagt mein Unbewusstes, Reiche Zimmer, 1740. Aha, sagt das Unterbewusstsein vielleicht bei anderen, sowas ähnliches war doch auch letzthin im Prospekt vom Möbel Supergross drin, 70% reduziert.

Das eine ist nicht besser als das andere, der eine fällt auf den Preis herein und der andere auf die gebaute Propaganda eines glücklosen Kaisers, aber was sich deutlich unterscheidet, ist die Richtung, in die hineingefallen wird: Ein Teil der Gesellschaft fällt in seinen Entscheidungen ganz nach unten, ein anderer Teil lässt sich von Prestigegedanken antreiben. Und irgendwo zwischen den  Stoffen, die den Monatsetat eines HartzIV-Empfängers auf einem halben Meter abdecken, und dem T-Shirt für 1,99 aus einer Sklavenfabrik in Bangladesch wäre das gesunde Mittelmass zu finden. Wäre da nicht das kleine Problem, dass die Gesellschaft in ihre Extreme zerbricht, und diejenigen, die zwischen den Polen sind, mal so und mal anders denken, aber oft an den Nutzwert. 20 mal Fabriksemmel im Stehen = genug Ersparnis, um Hummer zu bestellen. Hütte, wenn es keiner mitbekommt, Palast, wenn es auffällt. Das enorme Aufkommen der vormals als Wohnungen bekannten “Residenzen” im Immobilienvertrieb und immer neue Discounter lassen ahnen, dass diese Haltung bestens bedient wird: Gleich gegenüber dieser hier abgebildeten Residenz etwa, in einem Neubau. Was auch eine Art der unbemerkten Demütigung ist, wenn man davor steht und direkt vergleicht.

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Die Extreme sind im Kommen. Sehr wahrscheinlich also werde ich eine grössere Papiertonne bestellen müssen. Sehr wahrscheinlich wird es auch bald hier Residenzen geben, und einen weiteren Discounter mit ultrakurzen Kassenablagen, damit man schnell wieder in seine Residenz verschwindet, wenn man sich entlang des Prospekts reich gespart hat. Wie der Herr, so as G’scherr, sagte man früher in Bayern über die Herrschaften in den alten Residenzen. In den neuen Residenzen kann man das gar nicht mehr trennen.