Tante Paula liegt im Bett und isst Tomaten
Eine Freundin hat ihr dringend zugeraten.
Hermann Frey
Es ist die Hölle, die sich da auftut, wenn Baudelaire seine Blumen des Bösen einleitet. Es erscheinen Laster und Verdammnis, Betrug und Hass, Sünde und Gier, er führt uns immer tiefer hinab in den glitschigen Schlund der Leidenschaften. Am Ende dieser Höllenfahrt jedoch wartet nicht die schlimmste aller Sünden, sondern etwas vollkommen Banales auf die Verdammten: Der Überdruss. Die Langeweile. Und ich, der ich vor zwei Wochen mein Dasein bei einem aufregenden Motorschaden verfluchte, der ich Rechnungen bezahlen muss und einmal mehr die Demütigung des Abschleppwagens erdulden musste, kann nicht umhin, Baudelaire recht zu geben. Das Schlimmste ist nicht der Zahnriemenriss bei Würzburg und die Diagnose in Waldbüttelbrunn. Das Schlimmste ist die dadurch notwendige Zugfahrerei durch Regionen der Ödnis Frankfurt, die sogar ein Frankfurter als “scheusslich” bezeichnen würde. Ich habe diese Aussichten auf dem Hinweg neben anderen Bedrändnissen erduldet – wer zum Teufel erlaubt eigentlich das Verspeisen von geruchsintensiven Junkfood auf dem Bahnsteig? – auf dem Rückweg verschaffe ich mir Linderung durch den Erwerb der beiden Druckprodukte, die ich stets erwerbe: Intelligent Life und World of Interiors.
Sieht man einmal von einer mitunter durchscheinenden Zuneigung für nicht ganz mittellose Menschen ab, zeichnen sich beide Hefte durch eine erfreuliche Ideologiefreiheit aus. In der Intelligent Life kommt es allein darauf an, dass die Standpunkte klug dargestellt werden, und in der World of Interiors geht es um die Gestaltung des Raumes, in dem wir leben, von der kommunistischen Backfabrik bis zum Schloss. Es sind fraglos sehr dem Diesseits zugetane Hefte ohne Aktualität, und gemeinhin widmen sie sich der Überlegung, was ist und was bleiben wird, was vor dem Urteil der Zeit bestehen kann und nicht von Moden achtlos weggewischt wird.
Und es nimmt dann auch nicht wunder, dass die letzte Seite dann von Werbung eingenommen wird, die das alles noch einmal in sich verdichtet: Es geht um eine Uhr, eigentlich der Inbegriff der schnell laufenden Zeit, die genau das Gegenteil sein soll: Eine Bewahrung von Schönheit, eine Sicherung der Traditionen, ein Fortwirken des Jetzt in eine Zukunft, die der Vergangenheit durch den Gegenstand verbunden bleibt. Man besitze die Uhr nicht, man bewahre sie für die nächste Generation. Was die Werbung verspricht, ist eine Art Bestandsschutz über das irdische Dasein, das Altern und das Verkümmern hinaus. Die Versicherung, dass man nur für die nächste Generation aufbewahre, hat natürlich ihre Tradition im bürgerlichen Glauben, dass das Weitergegebene auch die Erinnerung bewahren möge. Warum das so ist, warum man das so gerne liest? Vielleicht, weil man immer noch gern an eine gewisse Unsterblichkeit glauben möchte. Vielleicht auch, weil bis vor rund hundert Jahren das Andenken an den Verstorbenen und das Einschliessen in die Gebete auch als Mittel für ein ewiges Leben in angenehmen Umständen betrachtet wurden.
Nun gab es früher für dieses Geschäft durchaus einen führenden Monopolanbieter namens “Kirche”, der keinen Zweifel daran gelassen hat, diese Dauerhaftigkeit jenseits des Ablebens sei allein mit ihm zu bekommen. Daher gab es im Kleinen die Galerie mit den verstorbenen Ahnen und im Grossen Grüfte, wohltätige Werke, Stiftungen und jede Menge Erbschaftsstreitereien, wenn jemand mehr an das Heil der Seele und der Kirche denn an das Wohlergehen der Neffen gedacht hatte. Der Furcht, mit dem Leben könnte die gute Zeit vorbei sein und eine schlechte Zeit im Jenseits folgen, verdanken wir herausragenden Werke der europäischen Kultur, denn diese Furcht verlangt nach einer höchst profitablen Dienstleistung: Eine kostenpflichtige Jenseitsgarantie, deren Ausfertigung im Diesseits vollkommen kostenfrei ist, und an die geglaubt wurde, als seien es europäische Stabilitätskriterien, die Rückzahlung amerikanischer Staatsschulden, oder privatwirtschaftliche Rentengarantien.
Doch das ein oder andere Ereignis sorgt letztlich dafür, dass so ein Glaube schwindet und sich gar verflüchtigt, und glaubt man den aktuellen Zahlen, haben gerade im letzten Jahr der Missbrauchskandale viele Katholiken ihrer Kirche die Gefolgschaft verweigert. Man glaubt nicht mehr an das Heilsmonopol, obwohl man vielleicht gerne auch weiterhin an das Heil glauben möchte; in etwa wie ein Kunstsammler, den der Erwerb einer Fälschung nicht davon abhält, andernorts auf ein erhofftes Original zu steigern. In diese Lücke der Begehrlichkeiten kann man gut stossen, wenn das angebotene Produkt ansonsten technisch veraltet, extrem teuer und darüberhinaus allgegenwärtig zu haben ist. So ein Versprechen von ewiger Dauer und Schönheit wirkt ganz anders als der Rest, der sich in Geschwindigkeit, Generationswechseln und letztlich auch Preisverfall darstellt: Mir gegenüber im Zug sassen zwei japanische Hipster mit Macbook, ärgerten sich über eine aufgehende Naht einer neuen Hipstertasche, und lichteten das Elend mit dem iPhone ab. Da bekommen Sprüche wie “Etwas wirklich Wertvolles behält seine Schönheit für immer” fast so etwas wie Wahrheitsanschein.
Gut, ein wenig Ende ist natürlich immer bei der Weitergabe dabei. Nun macht es mir nicht gerade den Anschein, als würde man in meinen Kreisen mehr über den Tod und Verfall nachdenken, als es irgend nötig ist; der Tod, das mag die Kirchen trösten, ist noch viel untauglicher als Modeartikel, als jeder Glaube, und es mag sein, dass die Anspielung auf das Ende und Vergänglichkeit etwas kontraproduktiv ist. Ich allerdings finde, dass hier nur ganz leicht mit dem Unvermeidlichen gewunken wird. Niemand macht hier die Hölle mit Erbsünden heiss, wie es im alten Monopol noch risikolos gepredigt wurde, es ist nur ein sanfter Hauch, eine Ahnung, danach wird gleich wieder der Blick geweitet zur Unvergänglichkeit. Und das wiederum ist sehr geschickt, denn wenn man schon sterben muss, dann bitte so leicht wie die Ahnung in der Werbung, und nicht als armer Sünder, der danach der Willkür schutzlos ausgeliefert ist. Der Glaube an die Uhr ist im Sinne des Kapitalismus einfach das bessere Angebot: Eine Sicherheit im realen Leben, und ein freundlicher formuliertes Versprechen für alles, was danach kommt. Und ein wenig Garantie, dass es für andere, die das nicht können, anders ausgeht. Wer denkt schon gern an Kinder, die der Eltern Uhren im Pfandhaus versetzen. Oder warum man eigentlich selbst keine Taschenuhr vom Urgrossvater – genau daran sollte man nicht denken.
Denken ist ohnehin überbewertet und hat dem Glauben noch nie gut getan, das sehen alte Kirche und neuer Konsum vermutlich nicht ganz unähnlich. Aber genau deshalb findet man die Werbung an dieser Stelle, hinten drauf nach der Erleuchtung durch Stil, Geschichte und Gedanken, ein Schlussstein im Gedankengewölbe, der alles noch einmal zusammenfasst und die Illusion erzeugt, man wäre gar kein armer Tropf, der sich keine bessere Unsterblichkeit, sondern nur eine teurere Illusion derselben leisten kann. Die Kirchen, deren lautes Klagen über den Niedergang bald wieder erschallen wird, sollten sich vielleicht überlegen, wie andere die Einbildung von Rationalität für Irrationales nutzen. Der Wunsch nach Bleibendem scheint jedenfalls noch zu wirken.
In Würzburg bin ich noch nicht an Langeweile zugrunde gegangen, die Hipster und ihr Malheur haben mich bestens auf Japanisch unterhalten. Sie setzen ihre Baseballkappen auf, und ich nehme meinen Koffer. Unsere Wege trennen sich; ich fahre mit dem Taxi vorbei an Kirchen und Gräbern zu meinem Wagen, in dem ein neues Motorenherz schlägt, und dann brause ich der Sterblichkeit entgegen. Ein italienisches Sprichwort besagt übrigens, dass die Mutter der Idioten immer schwanger sei, und ich denke, das ist erst mal genug genetische Unsterblichkeit diese Menschheit, die gerne glaubt, wenn sie dafür nicht denken muss.